Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

Beispiel Elementen-Transfer

Der Elementen-Transfer ist das Gegenstück zum Relationen-Transfer. Die Lernenden haben zwar schon Kenntnisse bestimmter Elemente, wissen aber noch nichts von den Möglichkeiten, sie durch Relationen eines neu zu erwerbenden Systems zu koppeln.

Das Anspruchsniveau des Elemententransfers lässt sich nur erahnen, wenn man selbst in einer entsprechend schwierigen Situation steckt. Ich beginne daher hier nicht mit einem Unterrichtsbeispiel, sondern mit einer “Knobelaufgabe”, von der ich hoffe, dass sie dem Leser nicht bekannt ist. (Die so genannte “Hausierer-Aufgabe” ist dem Wegener-Buch 1969, S. 60 entnommen.)

1. “Hausierer-Aufgabe”

 

“Es klingelte. Die Hausfrau öffnet. An der Tür steht ein Vertreter.” “Ich kaufe”, sagt sie dem jungen Mann, “grundsätzlich nichts an der Wohnungstür, aber,” fügt sie hinzu, “ich werde Ihnen eine Chance geben”. Ihre Bedingung:

Wenn er das Alter ihrer drei Töchter herausfinde (in vollen Jahren), so wolle sie sich die Sache überlegen. Das Produkt der Lebensalter ihrer drei Töchter betrage 36, während die Summe der Alter gleich ihrer Hausnummer sei. Der Hausierer sieht sich die Hausnummer an und rechnet. Er ist ein kluger Mann, dennoch muss er der Hausfrau nach einer Weile bekennen: “Ihre Angaben genügen noch nicht, um das Alter Ihrer Töchter zu bestimmen.”

Die Angaben reichten tatsächlich nicht, bekennt die Hausfrau lächelnd, deshalb wolle sie ihm noch verraten, dass ihre älteste Tochter Klavier spiele. Der Hausierer überlegte. Nach einer Weile sagt er, wie alt jede der Töchter ist - und wird seine Ware los.

Wie alt sind die Töchter?”

Der Text liefert alle für die Lösung des Problems benötigten Elemente:

  • Es handelt sich um drei Töchter.
  • Das Produkt der Lebensalter in Jahren beträgt 36.
  • Die Summe entspricht der (unbekannten) Hausnummer.
  • Die älteste Tochter spielt Klavier.
  • Der Hausierer kennt die Hausnummer, verlangt aber eine weitere Information.

Unbeeinflusste Knobler versuchen, diese Elemente so zu verarbeiten, dass sie Relationen zwischen diesen Elementen “erfinden”, die selbst im Text nicht enthalten sind.

Der erste Schritt besteht meist darin, - in gewohnter konvergenter Art - die acht möglichen Kombinationen der Lebensalter und die entsprechenden Summen aufzulisten. (Um das folgende besser nachvollziehen zu können, sollte der Leser diesen Schritt selbst ausführen und überlegen, woraus er auf eine sinnvolle Lösung schließen könnte. Wer sich die Arbeit sparen möchte findet HIER das Ergebnis.)

Da dieses Vorgehen allein noch keine Lösung bringt, versuchen die meisten, ausgehend von der Angabe über die klavierspielende Tochter, eine (willkürliche) Abschätzung des höchsten Lebensalters vorzunehmen. Doch hilft dies auch nicht weiter.

 

Nur die Entdeckung jener wesentlichen Relation zwischen

  • der Tatsache, dass der Hausierer die Hausnummer (im Gegensatz zum Knobler) kennt,
  • dem Tatbestand, dass die selbst errechnete Tabelle  der Summen zweimal die Summe 13 enthält,
  • und dem Merkmal älteste, das dem Element “Tochter” zugeordnet ist,

führt dazu, dass man die beiden einzigen Kombinationen von Lebensjahren, welche die Summe 13 ergeben (1, 6, 6 und  1, 2, 9), miteinander vergleicht.  Nur die zweite dieser Kombinationen beinhaltet aber das Lebensalter einer ältesten Tochter.

Lässt man einen Knobler seine Denk- und Suchbewegungen verbalisieren, so erkennt man sehr bald, dass ein konvergentes Verarbeiten der gegebenen elementenhaften Wissensbestandteile noch keine Lösung bringt, dass also divergentes Denken notwendig ist, um die genannte Relation zu finden. Diese Notwendigkeit bedingt u. a. den höheren Schwierigkeitsgrad des Elementen-Transfers gegenüber dem Relationen-Transfer bei dem man die Lösung oft bereits mit konvergentem Denken findet.

 

2. “Bruchrechnen”

Die Schüler sollen durch Elementen-Transfer lernen,

  • dass 3/4= 6/8 = 12/16 ist
  • und auch allgemein, wie man einen Bruch erweitert.

Gewöhnlich lernen Schüler dies durch bewusste Imitation. Aber es bietet sich auch die Möglichkeit zum Elementen-Transfer, wenn die Lernenden bislang wissen,

  • dass ein Bruch der durch den Nenner ausgewiesene Teil eines Ganzen ist
  • und dass der Zähler die Anzahl dieser Teile wiedergibt.

Die Schüler erhalten je eine Karte mit der Darstellung eines Bruches, die sie sich um den Hals hängen.

 Mehrere Brüche davon sind gleichwertig, z.B. 1/2, 2/3, 3/5, 4/6, 4/8, 6/9, 6/10, 8/16, 9/15.

Die Schüler werden aufgefordert, sich der Größe der auf ihrer Karte verzeichneten Brüche nach aufzustellen.

Zu Recht erwartete die Autorin der Problemstellung: “Zunächst wird sich ein Durcheinander ergeben, da die Brüche der Kinder gegenseitig erst einmal zur Kenntnis genommen werden müssen. Vielleicht beginnen bereits einige Schüler sich zu ordnen. Irgendwann wird es soweit sein, dass die Schüler mit den gleichwertigen Brüchen nicht genau wissen, wohin sie sollen (oder sich falsch einordnen!). Vermutlich werden nun auch die anderen Schüler dazu angeregt, sich mit dem Problem dieser Schüler zu beschäftigen. Damit haben die Schüler das Problem selbständig erkannt ...”

Auch bei diesem Beispiel fällt es Außenstehenden sicher schwer,  einzusehen, wie anspruchsvoll der geforderte Lernprozess ist, weil das Verfahren der Erweiterung von Brüchen selbst ja so einfach erscheint. Einfach ist es allerdings nur dann, wenn man schon weiß, wie man erweitert, indem man also Zähler und Nenner mit demselben Wert multipliziert. Hierin aber stecken gerade die durch Elementen-Transfer zu entdeckenden Relationen.

 

Das Beispiel ist übrigens geeignet, zu zeigen, wie der Lehrende im Unterricht je nach Vermögen der Lernenden die Anforderungen im Sinne der Minimalen Hilfe allmählich vom Elementen-Transfer zur bewussten Imitation verringern kann:

  • Solange die Lernenden keinerlei Hilfen haben, sind alle Bedingungen des Elementen-Transfers erfüllt: Die Relation ist unbekannt, das elementenhafte Wissen muss divergent denkend angewendet werden. Es wird nun von der Art der gegebenenfalls notwendigen Hilfen des Lehrenden abhängen, wie früh oder spät eine Vereinfachung im Sinne der bewussten Imitation erfolgt.
  • Die den Lernenden zunächst zur Verfügung stehenden Operations-Objekte sind außer den auf die Karten geschriebenen Brüchen lediglich Bewusstseins-Inhalte und Gedächtnis-Inhalte zur Bruchdarstellung. Finden die Schüler ohne weitere Hilfen beispielsweise den Weg, die verschiedenen Brüche, etwa als aneinandergefügte Kreisausschnitte zu objektivieren und ihre Größe durch Übereinanderlegen auszuwerten, so werden sie völlig selbständig die erforderliche Relation durch Elementen-Transfer finden können.
  • Hilft der Lehrende dadurch, dass er den Lernenden zunächst nur einen in Sechstel geteilten Kreis gibt, später evtl. noch einen in  Neuntel geteilten, um  die Lernenden an diese Möglichkeit der Bruchdarstellung zu erinnern, so sind die Suchbewegungen der Lernenden schon eingeschränkt, doch ist fraglich, ob auswertendes und kovergent-denkendes Anwenden schon ausreichen werden, die fehlenden Relationen durch bewusste Imitation zu finden.
  • Dies wird allerdings schon dann der Fall sein, wenn der Lehrende die Lernenden darüber hinaus dazu anregt, einen Vergleich der Brüche durch Übereinanderlegen der entsprechenden Sektoren vorzunehmen, indem er ihnen Drittel-und Neuntel-Kreise vorgibt.

3. “Partnerdiktat”


Das sog. “Partner-Diktat” ist eine beliebte “Methode” im Rechtschreibunterricht. Wir wählen für unser Beispiel eine besondere Art des “Partner-Diktats”.

  • Partner A diktiert  von einer Vorlage einen Text, in dem Wörter des Rechtschreib-Falles “l-ll” gehäuft auftreten.
  • Wenn B ein Wort falsch geschrieben hat, macht A ihn darauf aufmerksam, ohne den Fehler zu benennen.
  • B macht Vorschläge zur Abänderung der Schreibweise, bis A zustimmt.

Es lässt sich nicht voraussagen, ob ein Lernender angesichts der Wörter “malen”, “Halle”, “bellen”, “Tal”, “schnell”, “Keller”, “fallen”, sowie der Verneinungen bzw. Bestätigungen des Partners überhaupt angeregt wird, nach einer Regelmäßigkeit zu fragen. Tut er dies und hat er ein entsprechendes “AHA-Erlebnis”, so dürfte etwa die folgende Situation vorliegen:

  • Der Lernende beherrscht die Rechtschreibung “l-ll” noch nicht.
  • Er kennt die Buchstaben der zu schreibenden Wörter und deren Laut-Zuordnungen vom Lese-Schreibunterricht her, nicht jedoch die Schreibweise der Wörter.
  • Er hat Rechtschreibfälle mit „l“ und solche mit „ll“ noch nicht bewusst unterschieden und auf verschiedene Lautkombinationen angewendet.
  • Wenn er „Halle“ hört, versucht er, sich an ähnlich klingende Wörter und deren Schreibweise zu erinnern. Ihm fällt beispielsweise „Falle“ ein. Er versucht, die Schreibweise von „Falle“ auf „Halle“ zu übertragen und sucht beim Partner nach Bestätigung.
  • Der Lernende gibt dieses Probierverfahren auf, wenn er die Relation „vorangegangener kurzer Vokal - Verdoppelung des l“ oder die Relation „langer vorangegangener Vokal - einfaches l“ anhand der Wörter bellen, malen, Tal, schnell, Keller, ... „entdeckt“ hat.