Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

Beispiel Relationen-Transfer

1. “Rechtschreibung”

Gehen wir davon aus, dass sich die Lernenden im Sachkunde-Unterricht über die Arbeitsverhältnisse von Handwerkern vor einhundert Jahren beschäftigt haben und abschließend mit Unterstützung der Lehrerin einen Text entworfen haben, innerhalb dessen der folgende Abschnitt auftritt:

“Viele  Leute kamen aus den umliegenden Häusern, um zu erleben, wie der große Felsbrocken zerlegt werden sollte. Der  Steinmetz schwang den Hammer, ließ ihn genau auf den angekreideten Punkt niedersausen, und zu ihrem Erstaunen sprang der Fels entzwei.”

Bei der weiteren Verarbeitung des Textes stolpern zwei Schüler über die Frage, warum “Hammer” mit “mm” geschrieben wird, “kamen” dagegen nur mit einem “m”. Die Lehrerin nutzt geschickt die Gelegenheit, und konfrontiert die Lernenden mit der folgenden knappen Gegenüberstellung.

 

Hammer  - Namen

Kammer - kamen

Klammer - Samen

 

Die Schüler werten die Wortpaare gemeinsam aus und entdecken die folgende Regel:

  • Wenn einem “m”-Laut ein kurz-gesprochenes “a” vorangeht,
    wird das “mverdoppelt.
  • Wenn ihm dagegen ein lang-gesprochenes “a” vorangeht,
    wird das Wort nur mit einfachemm” geschrieben.

Die Lehrerin lässt die Schüler diese Relationen anschließend konvergent denkend auf andere Wörter anwenden (stammen, rammen, Goldammer, ...).

Im Bewusstsein der Schüler sind demnach zwei Relationen zwischen Länge des vorangehenden Vokals a  und möglicher Verdopplung des  Selbstlaut m verankert.

In einer späteren Unterrichtsstunde erhalten die Lernenden einzeln einen Text, in dem mehrere Wörter zur Rechtschreibschwierigkeit “l - ll” enthalten sind

(Halle, Wolle, schnallen, kullern, Wille, Ellenbogen, ...).

Da die Lernenden bislang die neuen Regeln nur in Verbindung mit den Elementen “a” und “m” gelernt haben, und da die Lehrerin keinerlei Hilfen zur Rechtschreibung gibt, befinden sich die Lernenden in folgender Ausgangslage:

  • Der Lernende beherrscht die Rechtschreibung “l - ll” noch nicht.
  • Aus dem vorangegangenen Unterricht weiß er: vorangehendes kurz-gesprochenes a”, dann Verdoppelung des folgenden “m .
  • Doch kennt er nicht die allgemeine “Regel”: vorangehender kurzer Vokal - Verdoppelung des folgenden Konsonanten.
  • Der Lernende sucht selbständig und ohne Hilfe nach ähnlichen Rechtschreibschwierigkeiten. Er erinnert sich an die im Fall “m” - “a erworbenen Relationen. Er benutzt dieses Wissen, um eine Regel für den derzeitigen Rechtschreibfall l - ll” in Verbindung mit anderen Vokalen zu entwickeln.
  • Er wendet die erinnerte Information über die Verdoppelung des “m” nun verallgemeinernd (mindestens konvergent denkend) auf alle Vokale und den Konsonanten “l” an.
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Falls Ihnen als  Erwachsenem der geschilderte Fall eines Relationen-Transfers allzu einfach erscheint, da Sie die allgemeine Rechtschreibregel ja schon beherrschen, und sich daher nicht mehr vorstellen können, dass der Relationen-Transfer beachtliche Anforderungen an den Lernenden stellt, lösen Sie zunächst einmal diese Aufgabe.

 

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2. “Warmwasserheizung”

Im vorangegangenen Unterricht haben sich die Lernenden innerhalb einer Unterrichtseinheit “Wohnen” u.a. mit verschiedenen Heizungssystemen, darunter der “Schwerkraftheizung” beschäftigt.

Dabei haben sie mehrere Experimente, u.a. folgende durchgeführt.:

SchwerkraftHeizungExperimente

Sie fanden heraus:

  • Wenn Wasser erwärmt wird, dehnt es sich aus.
  • Wenn sich Wasser ausdehnt, bleibt sein Gewicht dennoch erhalten.
  • Wegen (a) und (b), ist eine bestimmte Menge erwärmten Wassers leichter als die gleiche Menge kalten Wassers.
  • Weil das erwärmte Wasser wegen (c) aufsteigt und das abgekühlte Wasser abfällt, ergibt sich ein Kreislauf, sofern das Wasser am tiefsten Ort des Röhrensystems erwärmt wird.

In einer späteren Unterrichtsstunde konfrontiert die Lehrerin die Lernenden mit folgender Problemstellung:

Erika besucht mit ihrem Vater die neue, noch im Bau befindliche Wohnung. Die Heizungsmonteure sind gerade dabei, die Heizungskörper zu montieren. Erika schaut den Monteuren einige Zeit zu und sagt dann verwundert zu ihrem Vater:
Papa, das machen die Arbeiter doch falsch. Sie bauen die Heizkörper direkt unter die Fenster. Da geht doch die Wärme gleich wieder durch die Fenster verloren.”

Doch der Vater erwidert: “Nein, nein, das hat so schon seine Richtigkeit”.

SchwerkraftHeizungLuftstrom

Anhand dieser Problemstellung wird den Lernenden die Möglichkeit geboten, das neue Unterrichts-Objekt “Wärmeströmung der Luft” durch Relationen-Transfer zu lernen.

Alle Relationen, die die Schüler im Zusammenhang mit den Elementen “Ort im Röhrensystem” und “Wasser” gelernt haben, können sie nun auf die neuen Elemente “Ort des Heizkörpers” und “Luft” übertragen.

Die Gesamtaussage (das neue System) ist den Lernenden noch unbekannt. Natürlich kennen sie die Elemente “Luft” und “Heizkörper” schon, aber die nun wichtigen Merkmale, die dazu verwendet werden können, diese Elemente durch die bereits in Verbindung mit Wasser erkannten Relationen zu verknüpfen, sind ihnen zunächst nicht bewusst.

Sie wissen zwar u.a., dass Heizkörper Wärme abgeben, aus Eisen bestehen, und dass Luft durchsichtig, gasförmig ist, zum Atmen dient, usw. .

Für den gesuchten Zusammenhang sind aber andere Merkmale wichtig: Die Tatsache, dass der Heizkörper möglichst tief angebracht sein muss, sowie die Eigenschaft der Luft, Gewicht zu besitzen und dieses Gewicht je nach Temperatur im Verhältnis zum eingenommenen Raum zu verändern.

 Wenn sich die Schüler trotz dieser Unstimmigkeiten

  • an die Relationen erinnern, die sie im Zusammenhang mit dem Kreislauf des Wassers im Röhrensystem erkannt und produzierend angewendet hatten
  • und diese Relationen nun zur Lösung des Problems (mindestens konvergent denkend) übertragen,

so erarbeiten sie sich nicht nur selbständig ein neues System, sondern erwerben auch Kenntnisse über Merkmale, die ihnen an den beteiligten Elementen bislang nicht als wichtig erschienen.

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OsmoseWurzel

3. “Osmose”

 

In einer vorangegangenen Unterrichtsstunde hatten die Lernenden unter Anleitung des Lehrenden (in aufgaben-gesteuertem Unterricht) die Frage geklärt, wie Pflanzen Wasser aus dem Boden aufnehmen und (ohne Pump-Mechanismus) bis zu den Blattspitzen emportreiben können.

Unter anderem hatte ihnen der Lehrende Versuchsmaterial zur Herstellung einer “Pfefferschen Zelle” mit der Anweisung gegeben, in das äußere Gefäß Leitungswasser, in das innere, dessen Wände “semipermeabel” sind, eine Salzlösung zu geben .
Die Lernenden erkennen, dass Wasser von außen in die innere Zelle eindringt und erhalten die folgende Erklärung dafür: Die “semipermeable Wand” ist so fein durchlöchert, dass die größeren Salz-Moleküle nicht durch die Wand dringen können, wohl aber die kleineren Wasser-Moleküle.
Durch konvergent denkende Anwendung dieser Kenntnisse auf die Frage, wie es Pflanzen bewerkstelligen, Wasser aus dem Boden aufzusaugen und emporzutreiben, erwerben die Lernenden folgende Relationen:

  • Weil das die Wurzel umgebende Bodenwasser eine geringere Salz-Konzentration aufweist als die Zell-Flüssigkeit der Wurzel, streben die Lösungen einen Ausgleich der Salz-Konzentration an.
  • Weil die Zellwände nicht für die größeren Salz-Moleküle, sondern nur für die kleineren Wasser-Moleküle durchlässig sind, können die Salz-Moleküle nicht nach außen dringen, hingegen aber die Wasser-Moleküle aus dem Boden in die Zellen der Wurzel.
  • Weil das eindringende Wasser ständig nachfließt, entsteht in den Zellen ein Überdruck....usw.

In der heutigen Unterrichtsstunde (für Relationen-Transfer) werden die Schüler mit einem neuen Problem konfrontiert.

Nachdem sie einige Beispiele für Meerwasser- und einige für Süßwasserfische gesammelt hatten, stellte der Lehrende die Behauptung auf:

OsmoseFischProblem

Gelingt es den Lernenden, sich in dieser völlig anderen Situation an die o. g. Relationen zu erinnern und sie auf die neuen Elemente (Zellwände der Fische, umgebendes Meer- bzw. Süßwasser) anzuwenden, so können sie durch Relationen-Transfer das Problem lösen. Sie lernen dabei,

  • dass beim Meerwasserfisch wegen der höheren Salzkonzentration des umgebenden Wassers ständig Wassermoleküle durch die Zellwände nach außen dringen,
  • dass der Fisch daher durch das Maul zusätzlich Wasser aufnehmen muss,
  • dass der Sachverhalt beim Süßwasserfisch umgekehrt ist.
OsmoseFischLösung

Die Lernenden gelangen so selbständig, ohne dass ihnen ein Lösungsweg vorgegeben wurde und ohne dass die Relationen (zur “Osmose”) zuvor verallgemeinert wurden, zu neuen Kenntnissen über Elemente und ihre Merkmale und somit auch zum Erwerb neuer Systeme.

In allen Beispielen ist ein Punkt von besonderer Wichtigkeit für das Zustandekommen des Relationen-Transfers:

Wenn die Lernenden die zu übertragenden Relationen auch meist durch bewusste Imitation lernen, so darf der Unterricht nicht derart verlaufen, dass die Lernenden die erworbenen Relationen nach dem ersten “Fall” (sofort) als auf andere Fälle übertragen und sie verallgemeinern.

Denn das den Relationen-Transfer bedingende Merkmal besteht ja gerade darin, dass die Lernenden diese Relationen selbständig von jenen Elementen trennen, die sie in dem zuerst gelernten System verbanden, um sie zur Verknüpfung neuer Elemente anzuwenden.

So war die Verdoppelungsregel zunächst nur auf das “m” und das “a” bezogen, nicht schon auf andere Konsonanten.

  • Auch die Relationen des Wärmekreislaufs waren nur am Beispiel des Wassers konkretisiert, nicht im Zusammenhang mit Luft,
  • die Relationen der Osmose nur an den Zellwänden von Pflanzen, nicht auch an Fischen.
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