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Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht das Schlagwort vom “dialektischen Verhältnis von Theorie und Praxis” kennt. Es bedeutet nichts anderes, als dass Theorie und Praxis in wechselseitiger Beziehung stehen. Konkreter: In Kenntnis von Theorie kann man die Praxis besser gestalten, andererseits wird die Theorie durch die Erfahrungen, die man in der Praxis macht, befruchtet und überprüft. In vorgeblich “wissenschaftlicher” Formulierung klingt das so: ”Theorie verhält sich zu Praxis grundsätzlich wie Denken zu Handeln. Selbstverständlich muss Denken sich vor und nach dem Handeln in Distanz begeben, um dem Handeln nützlich zu sein. Und ebenso selbstverständlich kann sich Denken nicht auf seine Nützlichkeit reduzieren (...). Es geht nicht entweder um Praxis allein oder um Theorie allein, sondern um deren wechselkritische Einheit, die wir Forschung nennen." (Th. Rütter 1980, S. 269)
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Das so formulierte bipolare Denkschema besticht zwar durch seine Einfachheit, genügt aber keinesfalls, um die Zusammenhänge unterrichtlicher Wirkungsfelder abzubilden.
Es ist u. a. dafür verantwortlich, dass der Stellenwert der Technologie für die Didaktik in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg gering geachtet wurde und die Unterrichtsforschung kaum theoriegeleitet oder wenig anwendungsbezogen ausgeführt wurde.
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Um den mannigfaltigen Aufgaben in Lehre und Forschung gerecht zu werden, bedarf es eines anspruchsvolleren, tripolaren Modells (vgl. RIEDEL, H.: Zum Verhältnis von Zielen, Gegenständen und Verfahren der Unterrichtsforschung..
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Theorie
- versorgt die Technologie mit Gesetzesaussagen
- und die Praxis mit Zielaussagen
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Technologie
versorgt die Praxis mit Verfahren, Regeln und Unterrichtsmitteln, die nach Möglichkeit auf den von der Theorie gelieferten Gesetzesaussagen aufgebaut werden.
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Praxis
ist jene Situation, in welcher der Lehrende im Abgleich mit den Lernenden versucht, die von der Technik gelieferten Verfahren, Regeln und Mittel sittlich-verantwortlich einzusetzen, um die in der Theorie ausgewiesenen Ziele zu erreichen.
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Die besonderen Merkmale der drei Instanzen “Theorie”, “Technologie” und “Praxis” sind in der folgenden Tabelle gegenübergestellt. Die gelben Felder heben die Gemeinsamkeiten einerseits von Technologie und Praxis, andererseits von Theorie und Technologie hervor. Diese Gemeinsam- keiten hatten dazu geführt, dass die jeweiligen Paare nicht genügend unterschieden wurden, und dies fast immer zu Lasten der Technologie. Das hatte fatale Folgen für die Lehre und für die Forschung in der Didaktik. Studenten werden noch heute in der Hochschule mit Theorie gefüttert, die sie dann “im Praxisfeld umsetzen” sollen, ohne dass sie die notwen- digen Realisations- und Planungstechniken gelernt haben.
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THEORIE
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TECHNOLOGIE
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PRAXIS
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Worum geht es?
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WISSEN
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KÖNNEN
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verantwortliches HANDELN
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Wird die Welt direkt verändert?
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nein
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ja , aber betroffene Personen und Nebenwirkungen werden nicht berücksichtigt.
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ja , aber das Wohl betroffener Personen ist vorrangig. Nebenwirkungen werden bedacht.
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Wie verhält sich der Forscher?
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OBJEKTIV
regelhaft vorschriftsmäßig
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SUBJEKTIV
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Wie kann man es erlernen?
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durch LEHRE
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nur durch ERFAHRUNG
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Was wird erforscht?
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Vertretbarkeit und Notwendigkeit von ZIEL-Systemen (ideologisch) --------
Wahrheitsgehalt von GESETZESAUSSAGEN(funktionell)
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Wirksamkeit von
MITTELN und VERFAHREN
bei gegebenem Ziel und Anfangszustand
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Wünschbarkeit und Anwendbarkeit von
ZIELEN, MITTELN und VERFAHREN in konkreten Alltagssituationen
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Welche Merkmale sind sind vorrangig?
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Wahrheitsnähe Genauigkeit Reichweite Vermeidung von Anomalien Möglichkeit der Theorie-Verschmelzung
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Wirksamkeit Verlässlichkeit Handhabbarkeit Wirtschaftlichkeit Normierbarkeit
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Wirkung und Nebenwirkungen Zustimmung seitens der Handelnden Umsetzbarkeit Veränderbarkeit
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Theorie umfasst Wissen und Denkmodelle, denen folgende Merkmale aufweisen:
- Sie sind objektiv,
- regelhaft,
- dienen der Beschreibung und Erklärung der Welt,
- und sie können durch Lehre vermittelt werden.
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Technologie umfasst Verfahren, Regeln und Mittel, die angewendet werden, - nicht, um die Welt zu beschreiben oder zu erklären, sondern - um die Welt zu verändern. Diese Verfahren
- sind ebenfalls objektiv, also von bestimmten Menschen unabhängig,
- sind auch durch Lehre vermittelbar,
- sollten möglichst auf den von der Theorie gelieferten Gesetzmäßigkeiten aufbauen.
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Praxis umfasst mehr als Technologie.
- Aus der Theorie bezieht sie Inhalte, Ziele und Wertvorstellungen,
- aus der Technologie Verfahren zur Veränderung gegebener Situationen.
- Das Handeln, das in der Praxis geschieht, ist immer bestimmt durch Ziel- und Wertvorstellungen (im Bereich des Unterrichts: der Lehrenden und der Lernenden).
- Die von der Technologie gelieferten Verfahren werden vom Praktiker nicht blind übernommen, sondern in sittlicher Verantwortung gegenüber den am Unterrichtsprozess Beteiligten ausgewählt
- und unter ständiger Veränderung der Verfahren, auch der Zielvorstellungen, angewendet.
- Dieses sittlich-verantwortliche Handeln kann im Gegensatz zu Theorie und Technologie nicht gelehrt werden, sondern nur durch eigene Erfahrungen in selbstverantwortetem Unterricht (oder entsprechenden anderen Lebenssituationen) erworben werden.
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Eine technologische Situation ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass die zu erreichenden Ziele vorgegeben sind.
Da Techniken ohne Bezug auf konkrete Personen erlernbar sind, kann die Technologie wie die Theorie einer Allgemeinen Didaktik schon an der Hochschule gelernt werden.
. In einer praktischen Situation dagegen sind Normen und Zielsetzung unter Freiheitsverbrauch der beteiligten Personen grundlegende Merkmale. Sittlich-verantwortliches Handeln lässt sich nicht durch Lehre lernen.
Praxis kann daher nur durch Erfahrung, also erst durch selbständiges und selbstverantwortetes Unterrichten gelernt werden.
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Was durch Lehre erlernt werden kann, sollte auch an der Hochschule gelehrt werden! Aber:
Die Hochschule kann keine Praxis vermitteln,
darf sich aber auch nicht auf die Vermittlung von didaktischen Theorien beschränken,
sondern muss mindestens grundlegende Unterrichts-Techniken lehren!!!
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Anders als in der Unterrichts-Wissenschaft ist der Bedeutungsunterschied von Theorie, Technik und Praxis in der Medizin auch umgangssprachlich erhalten geblieben.
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Beispiel: Antibabypille
Erst 1960 waren die theoretischen Kenntnisse über das Zusammenspiel von Östrogen und Gestagen im Zusammenhang mit Entstehung und Ablauf einer Schwangerschaft ausreichend, um sie in Techniken der hormonellen Verhütung einsetzen zu können.
Die Einnahme der sog. Antibabypille war technisch einfach: (21 Tage Zuführung der enthaltenen Hormone, dann 7 Tage keine Hormone).
Dennoch zeigten sich nach Einführung viele praktische Probleme. Nicht wenige Frauen scheiterten daran, dass sie die Pillen nicht genügend regelmäßig einnahmen. Für die Ärzte aber waren und sind viel schwierigere Entscheidungen zu fällen. Einerseits behinderten damalige Moralvorstellungen: Darf die Pille nur verheirateten Frauen verschrieben werden? Heute: Ab welchem Alter oder welchem psychischen Reifestand dürfen Mädchen die Pille einnehmen? Welche Gefahren bestehen hinsichtlich des erhöhten Krebsrisikos, möglicher Depressionen, Gewichtsveränderungen usw. Der Praktiker muss täglich aus seiner Weltsicht und in Einschätzung der persönlichen Verhältnisse seiner Patientinnen entscheiden.
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Beispiel:
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In der Systemischen Didaktik wurden mehrere empirische Untersuchungen zum Schwierigkeitsgrad zweier wichtiger Intern-Operationen durchgeführt. Wie im theoretischen Modell vorausgesagt, erwies sich die Operation AUSWERTEN signifikant leichter als KONVERGENTES DENKEN, gleichgültig, wie alt die Versuchspersonen waren oder um welchen Unterrichtsgegenstand es sich handelte. Hier ein Beispiel aus dem naturwissenschftlichen Grundschulunterricht, der Dipolwirkung von Magneten:
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Wie in der Medizin verbietet es eine verantwortungsvolle Praxis, die von der Didaktik gelieferten Techniken bedenkenlos oder routinemäßig einzusetzen, auch wenn sie sich in anderen Fällen auch noch so oft bewährt haben!
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Die Beispiele zeigen, dass Praxis selbst kein Bestandteil einer Didaktik sein und daher auch nicht an der Hochschule gelernt werden kann. Dennoch besitzen verschiedene Modelle der Allgemeinen Didaktik unterschiedlichen Wert für den Praktiker. Das liegt am höheren oder geringeren PRAXISBEZUG des jeweiligen Modells. Dieser ergibt sich aus
- dem Grad an Hilfestellung, welche die Didaktik dem unterrichtenden Lehrer in Form von Verfahren, Regeln und Mitteln bietet
- und der Menge der zwischen den didaktischen Wirkungs- und Aufgabenfeldern ausgeführten Rückkopplungsbeziehungen, die durch drei Fragen gekennzeichnet sind:
- Sind die Aussagen über Zielsetzungen so differenziert und konkret, dass nach der Verwirklichung des entsprechend geplanten Unterrichts Genaues zur Realisierbarkeit, Planbarkeit und Überprüfbarkeit des gesetzten Ziels gesagt werden kann?
- Ist das wissenschaftliche Modell so differenziert und genau, dass es zur Erklärung der in der Unterrichtspraxis auftretenden Wirkungs-Erscheinungs-Zusammenhänge ausreicht?
- Waren die von der Didaktik geforderten Planungsüberlegungen und -entscheidungen hinreichend differenziert, eindeutig und vielseitig, dass der praktizierende Lehrer schnell neue Entscheidungen treffen und sie den derzeitigen Interessenlagen der Lernenden anpassen kann?
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Anmerkung “Praktikum”:
Den Praxisbezug eines allgemeindidaktischen Modells kann der Studierende am besten während eines “praktischen” Semesters erkunden. Die irreführende Bezeichnung gaukelt dem Studenten möglicherweise vor, er könne in dem kurzen Zeitraum PRAXIS lernen. Zwar befindet sich der lernende Student in derselben Raum-Zeit-Situation wie der Lehrer. Aber er handelt während seines “Praktikums” nicht eigenverantwortlich. Selbst wenn dies rechtlich möglich wäre, so reichte doch der zur Verfügung stehende Zeitraum nicht aus, um aus Langzeitwirkungen seiner Unterrichtshandlungen rückwirkend auf die Qualität jetziger und früherer Ziel-Entscheidungen und Realisationsmaßnahmen schließen zu können. Beides aber, die Nutzung von Freiräumen beim Setzen von Zielen und das verantwortungsvolle Handeln machen erst die Praxis aus.
So wichtig “Praktika” zur Erprobung und Vervollkommnung von Techniken für den Studierenden sind, Praxis wird er in ihnen nicht lernen!
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