Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

 

Wirkungsfelder der Didaktik

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oder

Die Zusammenhänge zwischen
Theorie,  Technologie und Praxis

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Inhalt dieser Seite:

Die Gegegenüberstellung  “Theorie - Praxis“ vereinfacht und verfälscht
Merkmale von Theorie, Technologie und Praxis
Grundlegender Unterschied von Technologie und Praxis
Beispiel aus der Medizin
Beispiel aus der Systemischen Didaktik
 

Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht das Schlagwort vom “dialektischen Verhältnis von Theorie und Praxis” kennt. Es bedeutet nichts anderes, als dass Theorie und Praxis in wechselseitiger Beziehung stehen. Konkreter: In Kenntnis von Theorie kann man die Praxis besser gestalten, andererseits wird die Theorie  durch die Erfahrungen, die man in der Praxis macht, befruchtet und überprüft. In vorgeblich “wissenschaftlicher” Formulierung klingt das so:
”Theorie verhält sich zu Praxis grundsätzlich wie Denken zu Handeln. Selbstverständlich muss Denken sich vor und nach dem Handeln in Distanz begeben, um dem Handeln nützlich zu sein. Und ebenso selbstverständlich kann sich Denken nicht auf seine Nützlichkeit reduzieren (...). Es geht nicht entweder um Praxis allein oder um Theorie allein, sondern um deren wechselkritische Einheit, die wir Forschung nennen."  (Th. Rütter 1980, S. 269)

TheoriePraxis

Das so formulierte bipolare Denkschema besticht zwar durch seine  Einfachheit, genügt aber keinesfalls, um die Zusammenhänge unterrichtlicher Wirkungsfelder abzubilden.

Es  ist u. a. dafür verantwortlich, dass der Stellenwert der Technologie für die Didaktik in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg  gering geachtet wurde und  die Unterrichtsforschung kaum theoriegeleitet oder wenig anwendungsbezogen ausgeführt wurde.

Um den mannigfaltigen Aufgaben in Lehre und Forschung gerecht zu werden, bedarf es  eines anspruchsvolleren, tripolaren Modells (vgl. RIEDEL, H.:  Zum Verhältnis von Zielen, Gegenständen und Verfahren der Unterrichtsforschung..

 

 Theorie

  • versorgt die Technologie mit Gesetzesaussagen
  • und die Praxis mit Zielaussagen
TheorieTechnologiePraxisUnterricht

Technologie
 

versorgt die Praxis mit Verfahren, Regeln und Unterrichtsmitteln,
die nach Möglichkeit auf den
 von der Theorie gelieferten Gesetzesaussagen aufgebaut werden
.

Praxis

ist jene Situation, in welcher der Lehrende im Abgleich mit den Lernenden versucht,
die von der Technik gelieferten
Verfahren, Regeln und Mittel 
sittlich-verantwortlich einzusetzen,
um die in der Theorie ausgewiesenen Ziele zu erreichen.

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Die besonderen Merkmale der drei Instanzen “Theorie”, “Technologie” und “Praxis”  sind in der folgenden Tabelle gegenübergestellt. Die  gelben Felder heben die Gemeinsamkeiten einerseits von Technologie und Praxis, andererseits von Theorie und Technologie hervor. Diese Gemeinsam-
keiten hatten dazu geführt, dass die jeweiligen Paare nicht genügend unterschieden wurden, und dies fast immer zu Lasten der Technologie. Das hatte fatale Folgen für die Lehre und für die Forschung in der Didaktik.
Studenten werden noch heute in der Hochschule mit Theorie gefüttert, die sie dann “im Praxisfeld umsetzen” sollen, ohne dass sie die notwen-
digen Realisations- und Planungstechniken gelernt haben.

 

 

 

THEORIE

 

 

TECHNOLOGIE

 

 

PRAXIS

 


Worum geht es?


WISSEN
 


KÖNNEN

verantwortliches
HANDELN

Wird die Welt direkt verändert?

nein

 ja
aber betroffene Personen und Nebenwirkungen werden nicht berücksichtigt.

 ja ,
aber das Wohl betroffener Personen ist vorrangig. Nebenwirkungen werden bedacht.


Wie verhält sich der Forscher?
 


OBJEKTIV

regelhaft                                  vorschriftsmäßig


SUBJEKTIV 


Wie kann man es erlernen?


durch
LEHRE


nur durch
ERFAHRUNG



Was wird erforscht?

Vertretbarkeit und Notwendigkeit von
ZIEL-Systemen
(ideologisch)
--------

Wahrheitsgehalt von
GESETZESAUSSAGEN
(funktionell)


Wirksamkeit von

MITTELN und  VERFAHREN

bei gegebenem Ziel und Anfangszustand

Wünschbarkeit und Anwendbarkeit von

 ZIELEN, MITTELN und VERFAHREN
in konkreten Alltagssituationen

Welche Merkmale sind sind vorrangig?

Wahrheitsnähe
Genauigkeit
Reichweite
Vermeidung von Anomalien
Möglichkeit der Theorie-Verschmelzung

Wirksamkeit
Verlässlichkeit
Handhabbarkeit
Wirtschaftlichkeit
Normierbarkeit

Wirkung und Nebenwirkungen
Zustimmung seitens der Handelnden
Umsetzbarkeit
 Veränderbarkeit

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Theorie umfasst Wissen und Denkmodelle, denen folgende Merkmale aufweisen:

  • Sie sind objektiv,
  • regelhaft,
  • dienen der Beschreibung und Erklärung der Welt,
  • und sie können durch Lehre vermittelt werden.

Technologie umfasst Verfahren, Regeln und Mittel, die angewendet werden, - nicht, um die Welt zu beschreiben oder zu erklären, sondern - um die Welt zu verändern. Diese Verfahren 

  • sind ebenfalls objektiv, also von bestimmten Menschen unabhängig,
  • sind  auch durch Lehre vermittelbar,
  • sollten möglichst auf den von der Theorie gelieferten Gesetzmäßigkeiten aufbauen.

Praxis umfasst mehr als Technologie.

  • Aus der Theorie bezieht sie Inhalte, Ziele und Wertvorstellungen,
  • aus der Technologie Verfahren zur Veränderung gegebener Situationen.
  • Das Handeln, das in der Praxis geschieht, ist immer bestimmt durch Ziel- und Wertvorstellungen (im Bereich des Unterrichts: der Lehrenden und der Lernenden).
  • Die von der Technologie gelieferten Verfahren werden vom Praktiker nicht blind übernommen, sondern in sittlicher Verantwortung gegenüber den am Unterrichtsprozess Beteiligten ausgewählt
  • und unter ständiger Veränderung der Verfahren, auch der Zielvorstellungen, angewendet.
  • Dieses sittlich-verantwortliche Handeln kann im Gegensatz zu Theorie und Technologie nicht gelehrt werden, sondern nur durch eigene Erfahrungen in selbstverantwortetem Unterricht (oder entsprechenden anderen Lebenssituationen) erworben werden.
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Technik und Praxis unterscheiden sich grundlegend,
obwohl beide die Welt verändern!

Eine technologische Situation ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass die zu erreichenden Ziele vorgegeben sind.

Da Techniken ohne Bezug auf konkrete Personen erlernbar sind, kann die Technologie wie die Theorie einer Allgemeinen Didaktik  schon
an der Hochschule gelernt
werden.

 

.
In einer
praktischen Situation dagegen sind Normen  und Zielsetzung unter Freiheitsverbrauch der beteiligten Personen grundlegende Merkmale.
 
Sittlich-verantwortliches Handeln lässt sich nicht durch Lehre lernen.

Praxis kann daher nur durch Erfahrung, also erst
durch selbständiges und selbstverantwortetes Unterrichten gelernt werden.

TheorieTechnologiePraxisLernbarkeit

Was durch Lehre erlernt werden kann, sollte auch an der Hochschule gelehrt werden! Aber:

Die Hochschule kann keine Praxis vermitteln,

darf sich aber auch  nicht auf die Vermittlung von didaktischen Theorien beschränken,

sondern muss mindestens grundlegende Unterrichts-Techniken lehren!!!

 

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Anders als in der Unterrichts-Wissenschaft ist der Bedeutungsunterschied von Theorie, Technik und Praxis in der Medizin auch umgangssprachlich erhalten geblieben.

Beispiel: Antibabypille

Erst  1960 waren die theoretischen Kenntnisse über das Zusammenspiel von Östrogen und Gestagen im Zusammenhang mit Entstehung und Ablauf einer Schwangerschaft ausreichend, um sie in Techniken der hormonellen Verhütung einsetzen zu können. 

Die Einnahme der sog. Antibabypille war technisch einfach: (21 Tage Zuführung der enthaltenen Hormone, dann 7 Tage keine Hormone).

Dennoch zeigten sich nach Einführung viele praktische Probleme. Nicht wenige Frauen scheiterten daran, dass sie die Pillen nicht genügend regelmäßig einnahmen. Für die Ärzte aber waren und sind viel schwierigere Entscheidungen zu fällen. Einerseits behinderten damalige Moralvorstellungen: Darf die Pille nur verheirateten Frauen verschrieben werden? Heute: Ab welchem Alter oder welchem psychischen Reifestand dürfen Mädchen die Pille einnehmen? Welche Gefahren bestehen hinsichtlich des erhöhten Krebsrisikos, möglicher Depressionen, Gewichtsveränderungen usw. Der Praktiker muss täglich aus seiner Weltsicht und in Einschätzung der persönlichen Verhältnisse seiner Patientinnen entscheiden.

Vergleichbares gilt auch für Unterricht.

 

Man kann theoretisches Wissen meistens nicht dirrekt  in Unterrichtstechniken umsetzen, ohne grundlegende Verfahren erlernt zu haben,

und ob eine Technik wirklich eingesetzt werden kann oder soll,
kann nur der praktizierende Lehrer
mit Blick auf die ihm anvertrauten Schülern entscheiden.

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Beispiel:

In der Systemischen Didaktik wurden mehrere empirische Untersuchungen zum Schwierigkeitsgrad zweier wichtiger Intern-Operationen durchgeführt.
Wie im theoretischen Modell vorausgesagt, erwies sich die Operation AUSWERTEN  signifikant leichter als KONVERGENTES DENKEN, gleichgültig, wie alt die Versuchspersonen waren oder um welchen Unterrichtsgegenstand es sich handelte. Hier ein Beispiel aus dem naturwissenschftlichen Grundschulunterricht, der Dipolwirkung von Magneten:

Konvergent denkendes Anwenden:

UboootKDA

Baue aus den Teilen ein U-Boot, das du tauchen und aufschwimmen lassen kannst!

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Auswertendes Anwenden:

Der Kiel des U-Boots besteht aus einem Magneten. Stelle dir vor, du hältst den oberen Magneten wie in den Zeichnungen.

Kreuze alle richtigen Zeichnungen an!

UbootAUSW
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Beide Aufgaben verlangen, dass Kenntnisse über die Zwei-Pole-Wirkung von Magneten angewendet werden,
links das konvergent-denkende Anwenden,

rechts das auswertende Anwenden.

Das vielfach überprüfte
Theorem
der Systemischen Didaktik besagt,
dass die linke Aufgabe schwieriger ist als die rechte.

Planungs- und realisations-technisch kann dieses Theorem je nach Zwecksetzung unterschiedlich eingesetzt werden:

1.
Um insbesondere Schülern mit Lernschwierigkeiten im Sinne “Vom Leichten zum Schweren” zu helfen, schwierige Sachverhalte anwenden zu lernen:

 Bevor eine Information konvergent denkend angewendet werden soll, erhält der Schüler immer die Gelegenheit, dieselbe Information zuvor auswertend anzuwenden,

 notfalls in unterschiedlichen Variationen des
Operations-Objekts.

oder 2.
Bei erfolgsgewohnten Schülern kann man genau umgekehrt verfahren:

Der Schüler wird erst mit der schwierigeren linken Aufgabe im Sinne einer Problemstellung konfrontiert.

Erst wenn er keine Lösung findet, wird die rechte Aufgabe zum Auswerten als “minimale Hilfe” eingesetzt, bevor die  Information in noch leichterer Aufgabenstellung serviert würde.

In der Praxis allerdings wird der Lehrende sorgfältig abwägen müssen,

bei welchem Schüler die Häufung von Auswert-Aufgaben als Hilfe willkommen sind,

bei welchen hingegen die Gefahr der Langeweile oder
Unterforderung besteht.

Bei der zweiten technischen Variante wird er auch einschätzen müssen, wie erfolgs- oder wie
misserfolgsmotiviert ein Schüler ist,

 bzw. wie groß das
Sicherheitsbedürfnis des Schülers einerseits und das Motiv des Verstehen-Wollens andererseits ausgeprägt ist.

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Wie in der Medizin verbietet es eine verantwortungsvolle Praxis, die von der Didaktik gelieferten Techniken bedenkenlos oder routinemäßig einzusetzen, auch wenn sie sich in anderen Fällen auch noch so oft bewährt haben!

 

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Die Beispiele zeigen, dass Praxis selbst kein Bestandteil einer Didaktik sein und daher auch nicht an der Hochschule gelernt werden kann. Dennoch besitzen  verschiedene Modelle der Allgemeinen Didaktik unterschiedlichen Wert für den Praktiker. Das liegt am höheren oder geringeren PRAXISBEZUG des jeweiligen Modells. Dieser ergibt sich aus

  • dem Grad an Hilfestellung, welche die Didaktik dem unterrichtenden Lehrer in Form von Verfahren, Regeln und Mitteln bietet
  • und der Menge der zwischen den didaktischen Wirkungs- und Aufgabenfeldern ausgeführten Rückkopplungsbeziehungen, die durch drei Fragen gekennzeichnet sind:
    • Sind die Aussagen über Zielsetzungen so differenziert und konkret, dass nach der Verwirklichung des entsprechend geplanten Unterrichts Genaues zur Realisierbarkeit, Planbarkeit und Überprüfbarkeit des gesetzten Ziels gesagt werden kann?
    • Ist das wissenschaftliche Modell so differenziert und genau, dass es zur Erklärung der in der Unterrichtspraxis auftretenden Wirkungs-Erscheinungs-Zusammenhänge ausreicht?
    • Waren die von der Didaktik geforderten Planungsüberlegungen und -entscheidungen hinreichend differenziert, eindeutig und vielseitig, dass der praktizierende Lehrer schnell neue Entscheidungen treffen  und sie den derzeitigen Interessenlagen der Lernenden anpassen kann?

 

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 Anmerkung “Praktikum”:

Den Praxisbezug eines allgemeindidaktischen Modells kann der Studierende am besten während eines “praktischen” Semesters erkunden. Die irreführende Bezeichnung gaukelt dem Studenten möglicherweise vor, er könne in dem kurzen Zeitraum PRAXIS lernen.
Zwar befindet sich der lernende Student in derselben Raum-Zeit-Situation wie der Lehrer. Aber er handelt während seines “Praktikums” nicht eigenverantwortlich. Selbst wenn dies rechtlich möglich wäre, so reichte doch der zur Verfügung stehende Zeitraum nicht aus, um aus Langzeitwirkungen seiner Unterrichtshandlungen rückwirkend auf die Qualität jetziger und früherer Ziel-Entscheidungen und Realisationsmaßnahmen  schließen zu können.
Beides aber, die Nutzung von Freiräumen beim Setzen von Zielen und das verantwortungsvolle Handeln machen erst die Praxis aus.

So wichtig “Praktika” zur Erprobung und Vervollkommnung von Techniken für den Studierenden sind, Praxis wird er in ihnen nicht lernen!

 

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