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Prof. Harald Riedel: Systemische Didaktik
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K. R. POPPER erweitert die bis dahin vorherrschenden Ansichten der Welt, indem er der Dimension, die mit den Begriffspaaren “Außenwelt - Innenwelt” oder “materiell - immateriell” oder “Leib - Geist” oder “Leib - Seele” beschrieben wurde, eine weitere hinzufügt, die durch das Begriffspaar “subjektiv - objektiv” gekennzeichnet werden kann.
Damit unterscheidet er drei verschiedene Welten, denen er gleichermaßen das Prädikat von "Wirklichkeit" zuschreibt. Für "wirklich" erklärt er alle Inhalte dieser drei Welten in jenem Sinn, dass sie entweder selbst "reale materielle" Dinge sind oder kausal auf solche Gegenstände einwirken bzw. in Wechselwirkung mit ihnen stehen. Die drei Welten unterscheiden sich nach POPPER folgendermaßen:
- Gegenstände der WELT l sind alle physikalischen, materiell-energetischen Gegenstände wie Tische, Häuser, Berge, Gestirne.
- "Bewohner" der WELT 2 sind die subjektiven Erlebnisse, Vorstellungen, Gedanken und Gefühle einzelner Menschen, beispielsweise die Vorstellung eines saftigen Apfels, der Gedanke an einen gemütlichen Abend mit Freunden, Zahnschmerzen, die Stimmung beim Anhören einer singenden Amsel, die Einstellung zum Abtreibungsparagraphen oder die persönliche Beurteilung eines Parteiprogramms.
- WELT 3 umfasst "die Erzeugnisse des menschlichen Geistes" im Sinne objektiver Kulturgegenstände wie Theorien aller Art, Hypothesen, die als Herausforderung zur Überprüfung solcher Theorien dienen, Argumente, die für und gegen solche Hypothesen sprechen, Kunstwerke, Mythen, Religionen.
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Beispiel:
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Stellen wir uns vor, wir erleben gerade eine Aufführung
der Jupiter-Sinfonie von W. A. Mozart.
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Die Interpretationen (WELT 2) erfolgen zwar auf der Grundlage notenschriftlicher Aufzeichnungen, doch diese Aufzeichnungen als physische Gegenstände (WELT 1) vergegenständlichen nur Verschlüsselungen eines Werks, das zwar seit zwei Jahrhunderten existiert, aber nicht direkt greifbar ist. Es ist weder die Partitur, noch "die Gesamtsumme der imaginierten akustischen Erlebnisse, die Mozart bei der Niederschrift der Symphonie hatte ..., auch nicht eine der Aufführungen ...oder die Klasse aller Aufführungen". Die Jupiter-Sinfonie ist vielmehr "ein wirklich idealer Gegenstand, den es wohl gibt, der aber nirgendwo da ist, und dessen Dasein irgendwie die Potentionalität seines wiederholten Interpretiert-Werdens durch den Geist des Menschen ist" ( POPPER/ECCLES 1982, S. 534). Das ist ein Gegenstand der WELT 3. Wie für alle Bewohner der WELT 3 gilt für die Jupiter-Sinfonie, dass sie als Ganzes durch kein einzelnes Bewusstsein repräsentiert werden kann.
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Sowohl Materialisten als auch Idealisten äußern Zweifel daran, dass alle drei Welten "wirklich" und auch insofern deutlich unterscheidbar sind, als dass jede von ihnen selbständig ist. Ihnen hält POPPER entgegen:
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Wirklich
sind solche Gegenstände, die
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1.
materiell-energetisch direkt nachgewiesen werden können
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das ist der Fall in
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WELT 1:
Instrumente und Notenblätter sind offensichtlich materieller Art aber auch die als Töne wahrnehmbaren elektromagnetischen Schwingungen
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2.
sich nachweisbar verändernd auf die Gegenstände erster Art auswirken
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das ist der Fall in
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WELT 2:
Wie der Dirigent das Werk interpretiert, ist von seinen Vorstellungen und Gefühlen gesteuert. Mittelbar verändern sie WELT l.
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und in
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WELT 3: Das vor 200 Jahren geschaffene Werk steuert Dirigenten sowie Musiker und verändert damit indirekt WELT 1.
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Allen drei Welten ist daher das Prädikat “WIRKLICH” zuzusprechen
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Sind die 3 Welten selbständig ? (d. h. lassen sie sich voneinander deutlich unterscheiden?)
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WELT 1:
Instrumente, Notenblätter und elektromagnetische Schwingungen existieren unabhängig vom Bewusstsein eines Menschen.
Elektromagnetische Schwingung, wie Licht Wärme oder Schall existierten schon lange, bevor es Menschen gab.
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WELT 2:
Man kann sich bestimmte Passagen oder Motive der Jupiter-Sinfonie “im Geiste” vorstellen oder “still” summen, ohne dass diese Teile von Instrumenten realisiert werden.
Auch kann man sich ein Instrument ausdenken, das noch gar nicht existiert.
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WELT 3: Die Jupiter-Sinfonie ist in C-Dur geschrieben. In der Antike wurden die Tongeschlechter DUR und MOLL noch nicht praktiziert, obwohl alle in Ihnen enthaltenen Töne auch damals schon verwendet wurden. Erst gegen 1600 n. Chr. wurden diese Tongeschlechter “entdeckt”.
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Allen drei Welten ist daher das Prädikat “SELBSTÄNDIG ” zuzusprechen
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WELT 2 ist sowohl mit WELT 1 als auch mit WELT 3 verbunden.
Es gibt aber keine direkte Beziehung zwischen WELT 1 und WELT 3!
Die Gegenstände der WELT 3 können WELT 1 ohne Einschaltung des Menschen (WELT 2) nicht verändern. Theorien, Argumente, Kunstwerke, Glaubenssätze an sich sind machtlos.
Demzufolge ist der Satz “Wissen ist Macht” nur sehr bedingt gültig. Er trifft nur zu, wenn
- Menschen sich das Wissen aneignen können
- und sie fähig sind, dieses Wissen produktiv in Taten umzusetzen.
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Die abstrakten Beziehungen
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Aktiv und schöpferisch erzeugt das menschliche Bewusstsein (WELT 2) neue Inhalte der WELT 3.
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Aktiv und schöpferisch interpretiert das menschliche Bewusstsein (WELT 2) Inhalte der WELT 3.
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Der Mensch (WELT 2) verändert seine Umwelt (WELT 1)
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Der Mensch (WELT 2) kann Gegenstände der WELT 1 wahrnehmen.
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in unserem Beispiel
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W. A. komponiert 1788 die Jupiter-Sinfonie. Seither wird sie weltweit aufgeführt.
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Ein Dirigent interpretiert die ihm über Notenaufzeichnungen zugängliche Jupiter-Sinfonie.
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Von den Aktionen des Dirigenten geleitet, lassen die Musiker das Werk von Mozart erklingen.
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Konzertgäste genießen die gerade aufgeführte Jupiter-Sinfonie 220 Jahre nach deren Entstehung.
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Zitat von Albert Einstein:
"Zwei Dinge scheinen unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit.
Beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher."
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Alle 3 Welten sind uns nur ausschnittweise zugänglich:
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Beispiele:
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WELT 1:
- Ein Meer von Funkwellen umgibt uns, ebenso kosmische und radioaktive Strahlung. Wir können sie weder sehen noch hören noch fühlen.
- Wir sehen nur einen sehr geringen Ausschnitt des Strahlungsspektrums oberhalb des ultravioletten und unterhalb des infraroten Bereichs
- Wir hören nur Schwingungen oberhalb von 16 Hz und unterhalb von 20000 Hz. Wir können nicht die niederfrequenten Schwingungen hören, die einem Erdbeben vorausgehen, oder mit denen sich Wale unterhalten, auch nicht die hochfrequenten Signale, mit denen sich Fledermäuse orientieren.
- Unser Geschmackssinn unterscheidet nur süß, salzig, sauer, bitter und umami, weil dies seit Urzeiten ausreichte, um bekömmliche von unbekömmlicher Nahrung abzugrenzen.
- Unsere Gemütszustände beeinträchtigen und steuern unsere Wahrnehmung. Wer seit längerem hungert, nimmt die Gegenstände der Umwelt vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Essbarkeit wahr.
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WELT 1:
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WELT 2:
- Wie schwierig ist es, sich in Gemütszustände und Gefühle selbst eines geliebten Menschen hineinzuversetzen!
- Wieviel Fähigkeit zur Distanzierung von sich selbst, wieviel schonungsloses Auswerten eigener Erfahrungen, wieviel Selbstvergewisserung der eigenen Wertwelt sind vonnöten, um die wahren Motive eigenen Handelns aufdecken zu können!
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WELT 3:
- Es dauert mehrere Jahre, bis ein Kind fähig ist, abstrakt im drei-dimensionalen Raum zu operieren.
- Die meisten von uns können sich keinen sieben- oder zwölf-dimensionalen Raum vorstellen. Auch Astronomen und Mathematiker benötigen dazu spezielle Modelle und Zeichensysteme (Sprachen), die sie erst erlernen müssen
- Streitgespräche über ein Problem, dessen Bewältigung erfordert, dass mehr als zwei bis drei Aspekte gleichzeitig bedacht werden müssen, scheitern meist. Der “gesunde Menschenverstand” bevorzugt ein-, höchstens zwei-dimensionales Denken
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Die Systemische Didaktik berücksichtigt alle ausgeführten Relationen. Wie die untenstehende Abbildung zeigt, überschneiden die einzelnen DIDAKTISCHEN OBJEKTBEREICHE allerdings verschiedene WELTEN. Das erschwert leider das Verständnis der Zusammenhänge.
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Literatur:
ECCLES, J. C. und POPPER, K. R.: Das Ich und sein Gehirn. München 1982 POPPER, K. R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hoffmann und Campe, Hamburg. 1973/1974 POPPER, K. R.: Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt. 1967. In POPPER 1973, S. 123-171 POPPER, K. R.: Zur Theorie des objektiven Geistes. 1968. In: K. R.. POPPER: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hoffmann, 1973, S. 172-212 RIEDEL, Harald: Aspekte didaktischer Objekt-Bereiche. Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft 37, H. 3, 1996 c, S. 125-137
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