Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

Überlegungen zur Terminologie

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Inhalt dieser Seite:

1. Eindeutigkeit
2. Eindeutigkeit und Umgangssprache
3. Beispiel "Operations-Objekt"
 

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Warum hat die Systemische Didaktik eine zunächst fremd anmutende Terminologie?
Kann der Didaktiker sich nicht einfacher und allgemeinverständlicher ausdrücken?

Wichtigste Forderung an den Begriffsapparat eines Modells oder einer Theorie ist Eindeutigkeit. Denn ohne eindeutige Termini kann keine erfolgreiche wissenschaftliche Auseinandersetzung stattfinden. Die Forderung nach Eindeutigkeit zu erfüllen, ist jedoch im unterrichts-wissenschaftlichen Bereich  schwierig, weil die meisten Begriffe mit einem weiten, durch die Umgangssprache bedingten Bedeutungsfeld verknüpft sind.

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Jeder hat seine eigene Vorstellung davon, was “Selbständigkeit”, “Anschaulichkeit” oder “Kreativität” bedeuten. Leider aber decken sich die Vorstellungen verschiedener Personen nie vollständig. Das merkt man spätestens, wenn Lehrer oder Studenten in einem Meinungsstreit an einander “vorbeireden”.

Beispiel:

Die Lehrerin eines 1. Schuljahres hat die Absicht, ihre Schüler  “mit altersgemäßen Texten kreativ umgehen” zu lassen. Sie leitet die Schüler an, verschiedene Tierbilder wie in der nebenstehenden Abbildung “in ihr Vorder- und Hinterteil” zu zerschneiden und diese Teile zu neuen, “selbsterfundenen Tieren” zusammenzusetzen sowie die so entstehenden Tiernamen zu benennen (z.B. als “Schildbär”).

3tiere

Arbeiten die Schüler hier selbständig?
Sind sie kreativ?

Nach meinem persönlichen Verständnis:       NEIN.
 

Sie schaffen durch Schneiden und Zusammenfügen zwar neue Objekte, doch führen sie nur aus, was ihnen die Lehrerin vorgemacht und erläutert hat.

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Die Erfahrung zeigt, dass dieser Fall auch ganz anders eingeschätzt wird. Das ließe sich nur verhindern, wenn sich  Gesprächspartner  zuvor auf  jeweils eine Definition für “Selbständigkeit” bzw. “Kreativität” geeinigt hätten, oder es in der Gemeinschaft der Unterrichtswissenschaftler eine allgemein akzeptierte Definition gäbe. Letzteres ist nicht der Fall und leider trifft das für den Großteil aller unterrichts-wissenschaftlichen Begriffe zu.

Für jemanden, der ein neues didaktisches Modell entwickelt, bestände natürlich die Möglichkeit, alle diese Begriffe für die   Anwender des Modells selbst zu definieren. Das aber hat Nachteile, die jeder aus der Schulzeit vom Fach Physik her kennt. Dort werden Wörter wie “Kraft”, “Arbeit” oder “Leistung” eindeutig festgelegt, aber deren Bedeutungen entsprechen nicht jenen Vorstellungen, die man vom umgangssprachlichen Gebrauch her gewohnt war. Und das führt häufig zu Fehlern oder Ablehnungen.

Bei der Entwicklung einer Terminologie steht man also vor der Aufgabe,


einerseits die geschichtliche Gebundenheit von Sprachelementen zu berücksichtigen,
andererseits jede wissenschaftliche Aussage eindeutig von zuvor begründeten Aussagen ableiten zu müssen.

Von diesen Überlegungen ausgehend, bauten ERNST KÖNIG und ich parallel zur Entwicklung unseres Modells eine Terminologie auf, die folgende Bedingungen zu erfüllen hatte:

  • Umgangssprachlich ”belastete” Wörter werden nicht als Fachwörter zugelassen.
  • Jedes Fachwort wird anhand einer umgangssprachlich beschriebenen konkreten Situation eingeführt, damit sein Sinngehalt auch dem ”Laien” ohne größere Mühe verständlich   wird.
  • Entsprechend dem systemischen Denken muss das so eingeführte  Fachwort die Funktion dessen widerspiegeln, das es benennt.
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Beispiel:

Als wir 1968 begannen, unser Didaktik-Modell zu entwickeln, wurden in der didaktischen Literatur parallel folgende Wörter mit jeweils anderem Bedeutungsgehalt und mit mit viel zu geringer Trennschärfe verwendet::
 “Lernmittel”, “Lehrmittel”, “Lerngegenstand”, “Arbeitsmittel”, ”Anschauungsmittel” , “Medium”.

Im obigen Beispiel könnte man die Bildkarten, mit denen die Schüler arbeiten konnten,

als “Lernmittel”
oder “Lerngegenstand”
oder “Medium” 
oder “Arbeitsmittel”

bezeichnen.

Allein die Bezeichnung “Lernmittel” wäre für eine Übernahme in eine funktionsbezeichnende Terminologie geeignet gewesen. Leider aber wurde es ständig mit “Lehrmittel” verwechselt.
“Lehrmittel” aber suggeriert die Betrachtung von Unterricht aus der Sicht des Lehrers, nicht aus jener des Schülers.
“Lerngegenstand” wird oft als gleichbedeutend mit  “Lerninhalt” verwendet, was eigentlich “Unterrichts-Objekt” meint, also das, was der Lernende lernen soll.
“Arbeitsmittel”
vermittelt den Gedanken, jede Lernhandlung sei Arbeit. Der Unterschied von Lernen und Leisten wird verwischt.
”Anschauungsmittel” reduziert die Lernhandlungen auf (passives) Anschauen, andere Sinnesorgane und aktive Handlungen sind nicht mitgedacht.
“Medium” kennzeichnet lediglich die Stellvertreterfunktion des Objekts, weist aber nicht auf die viel wichtigeren Lernhandlungen des Schülers hin.

Um der Gefahr missverständlicher Bezeichnungen zu begegnen und um ein geeignetes (funktionsentsprechendes) Fachwort zu gewinnen, führte ich damals eine kurze Geschichte von einem dreijährigen Mädchen an, das mit den Legosteinen ihres älteren Bruders spielend entdeckte, “wie man mit Leuchtstein und Batterie Licht macht”.

Anhand dieser Geschichte baute ich dann die Begriffe  Operation und “Operations-Objekt” auf.

Die dreijährige Angelika schleicht heimlich in das Spielzimmer ihres älteren Bruders. Der hatte am Abend zuvor aus Legosteinen einen beleuchteten Bahnhof gebaut. Angelika beginnt damit zu spielen. Leider wird dabei der Bahnhof zerstört. Bei dem entstehenden Durcheinander passiert folgendes: An einem Leuchtstein (einem transparenten Stein mit Glühlämpchen) ist das Verbindungskabel noch angeschlossen. Einer der beiden Stecker am anderen Ende des Kabels, der aus dem Batteriekasten herausgezogen worden war, berührt zufällig die Buchse. Zu Angelikas Freude leuchtet der Stein auf. Doch dauert die Freude nicht lange, denn sogleich wird der Kontakt wieder unterbrochen. Nun beginnt Angelika zu probieren, wie sie wieder "Licht machen" kann. Nach einer Reihe vergeblicher Versuche findet sie heraus, dass die beiden Stecker in die Buchsen des Batteriekastens gesteckt werden müssen. Sie löst und schließt die Kontakte immer wieder, bis es ihr mit Sicherheit gelingt, den Baustein zum Leuchten zu bringen. Dann aber wird die Tätigkeit "langweilig" und Angelika beendet das "Spiel". (Näheres dazu s. Systemisches Modell zur Differenzierung von Lernsituationen)


Als  “Operations-Objekt”
 wird jenes Objekt
 (Gedanke, Text, Bild, realer Gegenstand)
bezeichnet, an dem der Lernende
(äußerlich mit seinem Körper bzw. seinen Sinnesorganen
oder innerlich-gedanklich)
operiert.

Einige Operations-Objekte sind augenfällig:
Legosteine, Batteriekasten, Kabel, Stecker, Buchsen, das Licht, das vom Leuchtstein abgestrahlt wird, u.a..

Entsprechend vielfältig sind die von Angelika ausgeführten Operationen:
Einige Operationen können von externen Beobachtern direkt wahrgenommen werden, daher werden solche Operationen als externe Operationen bezeichnet: Angelika nimmt einzelne Bauteile auseinander, fügt andere zusammen, hält die Stecker an die Buchsen des Batteriekastens, steckt sie hinein, zieht sie wieder heraus, verfolgt und kontrolliert ihre Handlungen mit den Augen.

Die einzelnen Intern-Operationen und ihre unterschiedlichen Leistungen werden  durch folgendes Modell dargestellt.

 Das Wort “Operations-Objekt”  bildet zwei elementare Aspekte ab:

  • die Operation,  die (interne oder externe Handlung) des Lernenden
  • die Stellvertreter-Funktion eines (ideellen oder materiellen) Objektes als (meist vereinfachendes) Modell dessen, was gelernt werden kann oder soll.

Doch operiert Angelika nicht nur mit diesen, sondern mit  - nicht direkt beobachtbar - mit Bewusstseins- und Gedächtnis-Inhalten.

Andere Operationen lassen sich nicht direkt beobachten. Sie werden daher als interne Operationen bezeichnet. Umgangssprachlich werden selbst sehr verschiedene Intern-Operationen durch das Wort "Denken" zusammengefasst. Angelika musste Merkmale der verschiedenen Bauteile erkennen, sich an frühere Bauversuche erinnern, ständig nach verschiedenen neuen Lösungsmöglichkeiten suchen, also divergent denken, auswerten, ob ein gerade unternommener Versuch zum gewünschten Ergebnis führte und ihre Gedächtnis-Inhalte über die richtige Kombination von Bausteinen, Kabeln und Batteriekasten konvergent denkend anwenden, um das gewünschte Ergebnis reproduzieren zu können. Erst als der Vollzug der richtigen Handlung bereits zu Gedächtnis-Inhalten geworden war und nur noch erinnert zu werden brauchte, wurde das Spiel langweilig.

Im Beispiel von den zusammengesetzten Tieren sind

    Operations-Objekte   Bilder, Wörter in den Bildern,  Schere,  Erinnerungen an Merkmale und Namen der Tiere.
    Operationen                erkennen, erinnern, lesen, schneiden, zusammenfügen, neu lesen, aussprechen.

Weiteres wird ausgeführt in Systemische Betrachtungen über Operations-Objekte”.

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Der so gewonnenen Termini “Operation” und “Operations-Objekt” sind zwar  Kunstwörter, an die man sich aber schnell gewöhnt, weil man sie stets mit Erinnerungen an eine konkrete Situation verbinden kann und weil sie lautlich das widerspiegeln, für das sie stehen.

Zu der Eindeutigkeit im Vergleich zu den ungenauen umgangssprachlichen Wörtern tritt aber in der Systemischen Didaktik noch etwas anderes hinzu:

Die Begriffe “Operation” und   “Operations-Objekt” werden jeweils durch  mehrdimensionale (Teil-) Modelle  repräsentiert, mit deren Hilfe  nicht nur die Güte eines Operations-Objekt für bestimmte Operationen genau bestimmt werden kann, sondern von denen auch Hilfen abgeleitet werden, um für bestimmte Unterrichts-Situationen die am besten geeigneten Operations-Objekte zu finden.

 s. Kriterien zur Bewertung und Herstellung
von Operations-Objekten