Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

Konstruktion - Gestaltung

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Am Beispiel der Zeitplanung von Berlin nach Geratsried konnte gezeigt werden, dass das Planen vom Ziel her rückwärtig denkend erfolgen sollte, weil sonst die Gefahr besteht, dass weite Umwege beschritten werden müssen und das angestrebte Ziel möglicherweise gar nicht erreicht wird. In jedem Fall  würde die Planungszeit wegen der Umwege unnötig verlängert.

Andererseits hatte ich betont, dass sich viele Menschen schwer tun, die für Planungen notwendige Finalverknüpfung vorzunehmen. Wie befreit man sich von dieser Schwierigkeit? Um diese Frage beantworten zu können, muss ich zunächst etwas über zwei unterschiedliche Prozesse zur Erzeugung von Dingen oder Ereignissen ausführen. Das ist einerseits die Gestaltung, andererseits die Konstruktion von Produkten.

Töpfern
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Welches Produkt wird
gestaltet
 welches
konstruiert
?

FehmarnSund

Die meisten Zeitgenossen werden das Wort  “gestaltet” mit der auf der Töpferscheibe geformten Vase  verbinden und das Wort “konstruiert” mit der Fehmarn-Sund-Brücke. Dieser Entscheidung ist umgangssprachlich wie produktionstechnisch zuzustimmen.

Umgangssprachlich
ist man geneigt, künstlerische Produkte als “gestaltet” zu bezeichnen,
hingegen
maschinentechnische Produkte als “konstruiert”.

Die produktionstechnische Begründung jedoch bezieht sich auf völlig andere Kriterien.


Danach gestaltet der Künstler seine Vase, weil er zu jedem Zeitpunkt seiner Arbeit jede einzelne Handlung direkt von seinem “inneren” Bild der fertigen Vase her ableiten und steuern kann, gegebenfalls sogar während des Herstellungsvorganges die Zielvorstellung verändert, weil eine spontane Handlung zu einer Form führt, die dem Künstler besser gefällt, als seine Ausgangsvorstellung.

Beim Bau einer Brücke wäre ein vergleichbares Vorgehen fatal. Undenkbar wäre es,  die Zielbestimmung der Brücke, ihren Ort, ihre Belastbarkeit, ihre Höhe oder Breite zu verändern oder erst während der Bautätigkeit über Art und mechanische Eigenschaften der verwendeten Materialien zu entscheiden. Bei der Konstruktion der Brücke ist das Ziel unveränderbar vorgegeben, die Bauabschnitte werden schrittweise nach genau formulierten Verfahren unter Berücksichtigung vieler Faktoren wie Verkehrsdichte, Bodenbeschaffenheit, Meeresströmungen, Windverhältnisse, Temperatur, Festigkeit und Elastizität von potentiellen Baumaterialien, statische Eigenschaften verschiedener Brückentypen ausgeführt.
Die einzelnen Verfahren wurden zuvor aus einer oder mehreren Theorien (in diesem Falle des Brückenbaus) abgeleitet. Das alles ist notwendig, weil das Produkt selbst und und der gesamte Herstellungsprozess so informationsreich sind, dass sie niemand “überschauen” kann. Anders ausgedrückt: Die Bewusstseinskapazität des Menschen reicht nicht aus, um alle diese Informationen gleichzeitig zu vergegenwärtigen  (s. dazu Kapazitäten des Bewusstseins).
Jedes einzelne Teilverfahren hingegen wird so abgefasst, dass es, für sich genommen, überschaubar bleibt. Den Gesamtzusammenhang der Teilverfahren gewährleistet eine Gesamt-Handlungsvorschrift (Algorithmus), ähnlich einem Rezept.
Im Gegensatz zur gestalteten Vase kann eine Brücke rekonstruiert werden, weil ja alle Daten und Verfahren von der Handlungsvorschrift festgelegt wurden.

In der folgenden Tabelle sind die wesentlichen Unterschiede von Gestaltung und Konstruktion einander gegenübergestellt.

 

Merkmale

 

 

KONSTRUKTION

 

GESTALTUNG


Ziel

fest
vorgegeben

während des Herstellungsvorgangs veränderbar


Herstellungsvorgang

schrittweises Vorgehen nach einem System von Verfahrensvorschriften

jede notwendige Handlung ist
 
direkt von der Zielvorstellung ableitbar

Informationsmenge hinsichtlich Ziel und Herstellungsvorgang für den Erzeuger

größer als das Bewusstsein des Erzeugers
nicht überschaubar


vom Bewusstsein des Erzeugens fassbar
überschaubar


Voraussetzungen

erfüllbare Theorie und davon abgeleitetes Verfahrenssystem

Erfahrungen,
die
nicht in einem regelhaften Zusammenhang stehen müssen

Nachvollziehbarkeit
des Herstellungsvorgangs

immer
eindeutig

nicht
gewährleistet

 

Freiheitsspielraum

vom Differenzierungsgrad des theoretischen Modells und des Verfahrenssystems abhängig


grundsätzlich uneingeschränkt, aber wegen mangelnder Kenntnisse  oft nicht ausgeschöpft.

Im Sinne dieser Festlegungen   können   auch technische Produkte gestaltet werde. Sie müssen nur so “einfach”, so informationsarm sein, dass das Produkt und die Arbeits-
schritte überschaubar bleiben. Beispiel:

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Mein Garten ist durch einen etwa 80 cm breiten Graben von dem meines Nachbarn getrennt. Da wir uns oft gegenseitig behilflich sind, wollen wir eine ”Brücke” über den Graben bauen. Wir brauchen dazu keinen Konstruktionsplan. Unsere Erfahrung hilft uns,  abzschätzen, wie lang und stark eine Holzbohle sein muss, um uns tragen zu können. Entsprechend einfach ist es, eine in Länge, Breite und Stärke geeignete Bohle auszusuchen und sie über den Graben zu legen.  Unsere Erfahrung sagt uns auch, dass wir die Bohlenenden ein wenig eingraben sollten, um die Bohle sicher zu verankern.

Diese einfache “Brücke”, die ja eigentlich nur ein Steg ist, kann also gestaltet werden. Eine Konstruktion wäre hier viel zu aufwendig und umständlich.

Andererseit gibt es im Bereich der Kunst oder der Geisteswissenschaft unzählige Produkte, die nicht gestaltet, sondern konstruiert werden: Grosse Symphonien oder Oratorien, Dramen, Gemälde u. s. w.  Es kann zwar sein, dass solche Werken innerhalb gewisser Abschnitte der Erstellung teilweise auch gestaltet werden, aber ohne Konstruktionsplan könnten die großen Kunstwerke nicht realisiert werden. Der Grund ist derselbe wie beim Brückenbau: Das Werk und seine Erstellung basieren auf einer so großen Informationsmenge, dass sie nicht überschaut werden können.  Selbst einfach erscheinende Gemälde werden oft konstruiert. Das folgende Beispiel zeigt einige Handlungsabschnitte zur Produktion des Gemäldes “Griechisches Inseldorf” von G. Bennett ( Handbuch Ölmalerei. Benedikt. 1998. Köln).

1. Skizze   2. Größere Flächen untermalen   3. Auf die Untermalung lichter Ocker und Siena mit unterschiedlich viel Weiß gemischt auf Hintergrundflächen auftragen   4. Farben für Gebäude anpassen. Weiß als hellste Farben für beleuchtete Wände. Warme Rot- und Gelbtöne für Dächer   5. Zunächst blasse Ocker-Weiß-Mischung für Glockenturm   6./7. Schwarz  für die Dachkantenschatten   7. Glockenturm mit pastösem Weiß nochmals hervorheben  8. Felsen modellieren  9. Endstadium

Gebäude-HandlungsanweisungenSchwarz1
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Der Künstler hätte ein Bild dieses Landschaftsausschnittes auch gestalten können. Dann hätte er ggfls. mit Aquarellfarben “vor Ort” arbeitend, ständig gesteuert vom realen Vorbild, den gewählten Landschaftsausschnitt sofort in Farbe festgehalten, ohne das Bild schrittweise und zeitversetzt an verschiedenen Stellen aufzubauen. Ohne etwas über den “künstlerischen Wert” aussagen zu wollen, kann man voraussagen, dass sich das gestaltete Bild vom konstruierten unterscheiden würde.

Allerdings lassen sich nicht alle Produkte sowohl gestalten als auch konstruieren:

Gestaltung:

Wer nur ein wenig Erfahrung hat, kann ohne Schwierigkeiten bei kleineren Verletzungen einen Wundverband gestaltend anlegen.

Eine kleinere Familienfeier lässt sich sicher gestalten.

Konstruktion:

Die Durchführung einer Operation am Herzen verlangt genaue Planung und schrittweise konstruierende Planung.

Die Vorbereitung und Ausführung eines Jubiläumsfestes zur Ehrung von 12 Feuerwehren eines Landkreises wäre ohne konstruierende Planung zum Scheitern verurteilt.

Ob die Gestaltung oder die Konstruktion das geeignete Verfahren ist, hängt also in erster Linie von der zu bewältigenden Informationsmenge ab.

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Wie sollte man

Unterricht planen ?

gestaltend ?

oder

konstruierend ?

Wer Unterricht gestaltet, wählt aus bereits gemachten Erfahrungen und publizierten Vorstellungen über den "methodischen" Ablauf von Unterricht solche aus, die er für geeignet hält, um das jeweils von ihm gesetzte Ziel zu erreichen. Sogenannte Vorführstunden bei Lehrerprüfun-
gen beweisen sogar, dass die Gestaltung von Unterricht möglich ist, ohne dass zuvor ein bestimmtes Ziel gesetzt wurde. In solchen Fällen gestaltet man die äußeren, direkt beobachtbaren Phänomene des Unterrichts nach modischen Trends oder nach den Wunschvorstellungen der Prüfenden.

Die Konstruktion der Unterrichtsplanung (nicht auch der Unterrichtsrealisation!!!) dagegen muß in jedem Fall von genau definierten Zielvorstellungen ausgehen. Zwar werden bei der Konstruktion vorherige Erfahrungen ebenfalls genutzt, aber das “Bild” des Unterrichts steht nicht am Anfang, sondern wird erst schrittweise nach Kriterien und Verfahren entwickelt, die ihrerseits von einem zugrundegelegten theoretischen Modell abgeleitet wurden. Vorteil: Auch die Bewertung des Unterrichts erfolgt objektiv nach denselben Kriterien.

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Die Antwort steckt eigentlich in der obigen Feststellung über die Abhängigkeit des Verfahrens von der Menge an Information, die das zu produzierende Objekt für den Erzeuger hat.

Schon eine einzelne Unterrichts-Situation ist sehr komplex. Unterricht, der aus einer Reihe solcher Unterrichts-Situationen besteht, erst recht. Zwar sind nicht alle allgemein-didaktischen Modelle geeignet, die Komplexität wirklich bewusst zu machen. Von daher wird verständlich, dass das Gestalten von Unterrichtsplanungen sehr verbreitet ist.

Aber selbst für sehr erfahrene Lehrer ist das gesamte zu planende Unterrichtsgeschehen einschließlich aller Wirkungen und Erscheinungsformen nicht überschaubar.

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Wegen der großen Menge zu verarbeitender Information sollten

Unterrichts-Planungen

nach Möglichkeit

konstruiert

werden!

Diese Forderung hat Folgen für die Konzeption einer Allgemeinen Didaktik, gleichgültig, auf  welcher weltanschaulichen oder wissenschafts-
theoretischen Position sie aufbaut:

 Eine wirkliche Hilfe für den praktizierenden Lehrer kann eine Allgemeine Didaktik nur dann bieten,
wenn sie mindestens
ein System von Konstruktions-Kriterien,
besser noch
ein System von Handlungsanweisungen
ausweist.

Allerdings sind einige ergänzende, differenzierende Bemerkungen nützlich. Sie betreffen die derzeitige Lage, in der sich Lernende und Lehrende an den meisten öffentlichen Schulen befinden.
Immer noch fungieren Lehrer als “Einzelkämpfer”. Den größten Teil des Unterrichts planen sie, wenn auch vielleicht in Absprache mit Kollegen, allein für “ihre” Klasse. Ohne die Vielfalt möglicher Erleichterungen im Einzelnen zu diskutieren, sei nur darauf hingewiesen, dass Unterricht für größere Lerngruppen auf jeden Fall effektiver geplant werden kann, wenn mehrere Personen gemeinsam eine differenzierte Gesamtplanung erstellen und anschließend jeder Lehrer auf dieser Basis Einzelplanungen fertigt, die genau auf seine Lernenden zugeschnitten sind. Das wäre ein erster Schritt zur Objektivierung der Unterrichtsplanung. Jede Objektivierung aber kann nur auf der Grundlage von Konstruktions-Kriterien und  - Verfahren gelingen.

Da die Praxis jedoch weitgehend anders aussieht, muss auch festgestellt werden, dass das konstruierende Planen nicht in allen Situationen ökonomisch ist.

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 Wo aber liegt die wirtschaftliche Grenze
zwischen Gestaltung und Konstruktion der Unterrichtsplanung?

        Sie richtet sich danach,

                wieviel Planende
                im Verhältnis zu wie vielen Lernenden
                und im Verhältnis zu wie vielen Unterrichtenden

        den Unterricht planen.

Im Extremfall des Nachhilfeunterrichts, den ein Lehrer nur einem Schüler erteilt, wird er gestalten, weil die Konstruktion viel zu aufwendig wäre.

Anders dagegen, wenn ein Lehrender alleine den Unterricht für seine Lerngruppe plant. Da er keinesfalls in der Lage ist, die vielfältigen Möglichkeiten zu überschauen, die er angesichts der so pauschal erhobenen Forderung nach “Individualisierung” müsste er seine Planung entsprechend differenziert konstruieren. Selbst wenn er die Lernenden je nach ihrem Anfangs-Zustand in einzelnen Lerngruppen zusammenfasst und gleichermaßen unterrichtet, wird ihm dazu aber die Zeit fehlen. Dennoch ist die Gestaltung nicht der einzige Ausweg. Besser wäre die gestaltende Fortführung von Bausteinen, die er einer schon vorliegenden, konstruierten Planung entnimmt.

Erstellen mehrere “Experten” Unterrichtsplanungen für eine nicht abschätzbar große Menge unbekannter Lernender, beispielsweise in Medienverlagen als  ”Lernsoftware” oder andere “Unterrichtsmedien”, so ist die Forderung nach Konstruktion unabdingbar. Der von Lehrern immer wieder beklagte Qualitätsmangel solcher “Medien” wird m. E. vor allem durch zwei Faktoren begründet:
    1.  Bestenfalls sind die Produkte fachdidaktisch fundiert, was oft zu einseitigen Sichtweisen führt.
    2.  Die Erzeugnisse sind aus Mangel an Handlungsanweisungen nur, wenn oft auch mit viel Aufwand der Erprobung gestaltet, weil                        allgemein-didaktisch fundierte Handlungsanweisungen unbekannt sind und daher die Konstruktion unmöglich ist.

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