Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

Plastische Steuerung

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Inhalt dieser Seite:

1. Der Widerspruch von Planungsnotwendigkeit und freier Willensentscheidung
2. Mängel des Determinismus und des Indeterminismus
3. Inwieweit ist Weltgeschehen vorhersagbar?
4. Das Modell der Plastischen Steuerung als Lösung
5. Plastische Steuerung und Unterricht
6. Literatur
 

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Der Widerspruch von Planungsnotwendigkeit und freier Willensentscheidung

Der Alltagsverstand sagt uns, dass Erziehung und Unterricht

  • ohne freie Willensentscheidung
  • und  planende Überlegungen

nicht möglich sind.

Aber:

Planung  setzt voraus, dass künftige Ereignisse oder Zustände im Sinne von Ursache-Wirkungs-Beziehungen  vorhergesagt werden können.

Dabei muss man davon ausgehen, dass die Welt geordnet ist und gesetzmäßig verläuft.

Denn nur wenn man bestimmte Gesetzmäßigkeiten kennt, kann man Künftiges voraussagen.

Diese Auffassung nennt man in der Philosophie DETERMINISTISCH.


Dem widerspricht die Vorstellung von freier Willensentscheidung.

Frei entscheiden kann man nur, wenn nicht alles gesetzmäßig festgelegt ist, sondern der Zufall eine entscheidende Rolle im Weltgeschehen spielt.

Das ist die Auffassung des INDETERMINISTEN.

Wie aber vertragen sich freier WILLE und Zufall?

Der EXTREME  DETERMINIST könnte sagen:

“Wenn ich im Jahre 1980 genügend genaue Informationen über den geistigen, seelischen und körperlichen Zustand der Person Harald Riedel gehabt  und alle gesetzmäßigen Zusammenhänge gekannt hätte, hätte ich voraussagen können, dass er diese Internetseite im Jahre 2009 erstellen wird.”

Der EXTREME  INDETERMINIST könnte sagen:

 

“Was auf dieser Seite über ‘Plastische Steuerung’ ausgeführt wird, ist ein Ergebnis reinen Zufalls.”
 

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Beide Auffassungen erschrecken und erzeugen ein berühmtes philosophisches Dilemma:

Demnach wäre jede schöpferische Tätigkeit ausgeschlossen und bloße Selbsttäuschung.

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Dieser Auffassung nach wäre freier Wille
   reine Einbildung.

Dennoch beeinflussten beide philosophischen Theorien,

die des Determinismus,
seitdem J. KEPLER und  I. NEWTON gezeigt hatten, dass die Bewegungen aller Sterne vorausberechnet werden konnten

und die des Indeterminismus
nachdem W. HEISENBERG, E. SCHRÖDINGER  u. a.
die Quantentheorie eingeführt hatten
 und die meisten Physiker den Determinismus aufgaben

nacheinander  alle Geisteswissenschaften  in hohem Maße,
und führten zu entsprechenden theoretischen Mängeln und Einseitigkeiten,
die sich noch heute in den verschiedenen Wissenschaftstheorien und  in  den
- von diesen wiederum beeinflussten -
unterrichts- und erziehungswissenschaftlichen Modellen wiederfinden.

Wie aber kann man  dieser philosophischen Zwickmühle
zwischen Determinismus, Indeterminismus, Anspruch auf freie Willensentscheidung und Schöpferkraft entkommen?  Oder:

Wie muss ein Modell beschaffen sein, das beides umfasst

  • die Forderung nach Freiheit
  • die Fähigkeit zu schöpferischer Leistung

?

Einen Weg zeigt K. R. POPPER  schon 1962   in “Über Wolken und Uhren”  mit seinem Modell  der “Plastischen Steuerung

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In wieweit ist Weltgeschehen vorhersagbar?

Die Alltagserfahrung sagt uns, dass nicht alle Dinge und Objekte in gleichem Maß gesetzmäßig funktionieren und voraussagbar sind. POPPER  schlägt daher vor, sich eine Skala zu denken, die auf der linken Seite die Merkmale “ungeordnet, zufällig, unvorhersagbar” und auf der rechten Seite die gegensätzlichen Merkmale “geordnet, gesetzmäßig, vorhersagbar”  aufweist.

Die folgende Grafik gibt einen Eindruck dieser Vorstellung.

PopperOrdnungPfeil

Es wird Ihnen wohl kaum Schwierigkeiten machen, sich vorzustellen,
an welcher Stelle der Skala Sie die im folgenden Bild gezeigten Elemente
Katze, Wolken, Sonnensystem, Klatschmohn und Chronometer
im obigen Schema einordnen würden.

PopperOrdnungElementeBilder

In etwas verallgemeinerter Form werden Sie wohl zum folgenden Schema gelangen:

PopperOrdnungWolkeSonne
0-StrichSenkrechtHellblau

Von Wolken lässt sich sagen, dass sie völlig ungeordnet, zufällig und unvorhersagbar sind.

0-StrichSenkrechtGrün 0-StrichSenkrechtGrün
0-StrichSenkrechtGelb

Von genauen Uhren erwarten wir, dass sie sehr geordnet, gesetzmäßig und vorhersagbar sind.

Schon für Pflanzen, erst recht aber für Tiere und Menschen können wir nicht akzeptieren, dass sie völlig geordnet, gesetzmäßig und vorhersagbar sind.

0-StrichSenkrechtGelb

Das Sonnensystem gilt seit KEPLER als das Paradebeispiel eines extrem geordneten, gesetzmäßigen und vorhersagbaren Objekts.

POPPER begründet, dass es bei ihnen ein Zusammenwirken zwischen
etwas sehr Zufallsähnlichem und so etwas wie einer einsschränkenden ... Steuerung
geben muss und vergegenständlicht diese Vorstellung mit seinem Modell der
Plastischen Steuerung”.

Wenn das Modell aber ebenso wie die älteren Vorstellungen des Determinismus und des Indeterminismus Allgemeingültig beanspruchen, so muss es auch Geschehnisse im Bereich des Unbelebten abbilden.

Genau das verdeutlicht Popper am Beispiel eines Gases. Er setzt auf der eingangs eingeführten Skala ganz links eine Gaswolke als Abbild des Indeterminierten, ganz rechts einen gasgefüllten Eisenzylinder als Stellvertreter des Determinierten, in die Mitte eine Seifenblase.

PopperOrdnungPfeil
PopperGaswolke

Gaswolke

Die Gaswolke diffundiert nach ihrer Entstehung und wird bald kein System mehr sein.

PopperSeifenblaseKugel

Seifenblase

0-StrichSenkrechtGrün
PopperZylinder2

Gasgefüllter Zylinder

Das Gas kann nicht entweichen. Die Wände des Zylinders stehen für eine “eiserne”, unnachgiebige, starre Steuerung.

Schon bald nach ihrer Entstehung
verliert die Seifenblase die ideale Form der Kugel.
Sie wabert durch die Luft.
Dabei verändert sie ständig ihre Form.
Sie kann sich sogar teilen:

PopperSeifenblasenDeformiert2

Die Seifenblase besteht aus zwei Teilsystemen:

Das steuernde Objekt ist die Seifenhaut.
Ohne sie würde die Luft schnell diffundieren, das System wäre zerstört.

Das gesteuerte System ist die eingeschlossene Luft.
Ohne die Luft würde die Seifenschicht zusammenfallen.
Man hätte nur noch einen Tropfen Seifenwasser.

Die Steuerung ist gegenseitig.
Sie ist plastisch.
Zwischen beiden Teilsystemen gibt es Rückkopplungen.

Insofern gleicht die Seifenblase einem lebenden Organismus:

Die Bewegungen der Luftteilchen sind unvorhersehbar und gehorchen keinen Gesetzen.
Absorbiert die Seifenblase Energie, z. B. Wärme, so bewegen sich die Teilchen schneller und stärker.
Dort, wo sie massiert auf die Seifenhaut prallen, stülpt sich die Seifenhaut aus,
an anderen Stellen wird sie nach innen gezogen.
So kommt das Wabern, die ständige Veränderung zustande.

PopperSeifenblasenMoleküle

 

 
Dies geschieht, weil die Seifenhaut die Luft nicht starr einschließt, sondern eine durchlässige Membrane bildet.
Das System ist also ‘offen’ und kann auf  Umwelteinflüsse reagieren.
Die Lufttmoleküle sind zwar auf einen bestimmten Raum beschränkt, können sich aber innerhalb der Seifenhülle frei bewegen.
Andererseits können sie die Seifenhülle verändern.
Fähigkeit zur Veränderung aber ist die Verallgemeinerung  von schöpferischer Fähigkeit .

Das Modell der

Plastischen Steuerung

vermag im Gegensatz zu
Determinismus und Indeterminismus
beides abzubilden,

  • die Forderung nach Freiheit
  • die Fähigkeit zu schöpferischer Leistung
     

Die Seifenblase ist  ein  Beispiel für die Existenz der Plastischen Steuerung sogar im physikalischen Bereich.

Besonders hohen Erklärungswert besitzt das Modell aber für Prozesse in den Bereichen des Lebendigen.

PopperPlastischSteuerg4Elemente

Plastische Steuerung und Unterricht

Das Modell der Plastischen Steuerung verdeutlicht auch sehr anschaulich die Unterschiede von Unterrichts-Planung und Unterrichts-Realisation.

UnterrichtPlastischeSteuerung

 

Selbstverständlich verläuft  die Realisation des Unterricht keinesfalls determiniert.
 “Unterricht realisieren” bedeutet in erster Linie die Operationen des Lernenden plastisch zu steuern.

  • Die grüne Linie steht für die Operationen des Lernenden.
  • Sie verläuft nicht geradlinig vom Anfangs-Zustand zum Unterrichts-Ziel.
  • Die Abweichungen von der roten Ideallinie zeigen, dass die Operationen des Lernenden innerhalb des Kanals frei verlaufen.
  • Der Kanal  wird durch den zuvor erstellten Unterrichts-Plan bestimmt.
  • Die Freiheit des Lernenden endet dort, wo die Außenwände des Kanals berührt werden.
  • Das steuernde System ist aber nicht die rote Linie, sondern der Kanal!
  • Weitere steuernde Systeme sind die dem Lehrenden leider oft unbewussten
    Menschenbilder und von ihm bevorzugten Erziehungsstile.

Würden die Operationen des Lernenden die Außenwände des Kanals durchstoßen, so zerfiele das System, wie es bei der Seifenblase passiert, wenn die Seifenhaut zerplatzt.

Unter welchen Umständen dies geschieht  und in welchen Fällen es der Lehrende zulassen sollte, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
 

 

Das Planen von Unterricht geschieht hingegen deterministisch.

Der rote Pfeil soll versinnbildlichen, dass die Planung final vom Unterrichts-Ziel her zum Anfangs-Zustand des Lernenden hin konstruiert wurde.

  • Voraussetzung dafür ist die Kenntnis, zumindest aber die Annahme von Gesetzmäßigkeiten in Unterrichts-Situationen.
  • Der Unterrichts-Plan bildet den Kanal ab, innerhalb dessen Unterricht verwirklicht werden soll.
  • Die Geradlinigkeit des roten Pfeils zeigt nicht etwa, wie es häufig missverstanden wird, den Grad an Detailliertheit einer Planung an, sondern steht für die logische Stringenz des Konstruktionsvorganges.
  • Die Breite des Kanals hängt von der Qualität des beabsichtigten Lernprozesses und der Offenheit der einzusetzenden Operations-Objekte ab.

 

Leider mißachten viele allgemein-didaktischen Modelle diese grundlegenden Unterschiede. Meistens liegt das daran, dass sie von einer Wissenschaftstheorie beeinflusst sind, die die gesamte Welt durch nur ein Prinzip zu erklären  versuchen.

Das führt zu Fehlsichten:

Entweder leugnet man, dass Gesetzmäßigkeiten des Lernens oder Unterrichtens überhaupt existieren.
Dann fallen die Aussagen zum Planen von Unterricht so vage oder nichtssagend aus, dass sie für den Lehrer nutzlos sind.

 

Das aber führt dazu, dass die  Bedeutung der Allgemeinen Didaktik von Lehrern als sehr gering eingestuft wird.

Oder man fordert, dass der Unterricht nach einem Prinzipien- oder Rezeptkatalog geplant wird, der möglichst vollständig erfüllt werden soll,
und verlangt, dass der Lehrende den so entstandenen Plan minutiös in Unterricht umsetzt,
auch wenn nicht vorhergesehene Operationen der Lernenden schwerwiegende Abweichungen beanspruchen.

Die Folge sind meist Rigidität des Unterrichts und Ablehnung seitens der Schüler.

In der Systemischen Didaktik werden die Unterschiede und ihre Konsequenzen
 bereits durch die verschiedenen Aufgabenbereiche,
speziell innerhalb des unterrichts-technischen Bereichs 
berücksichtigt.

Probleme
unterschiedlicher Freiheitsgrade
und notwendiger Steuerungen


werden bei der Durchführung
von  Unterricht  durch
das Modell der Lernsituationen
in sehr differenzierter Weise behandelt.
 

werden schon im Planungsprozess,
insbesondere durch die Modelle
 der Lernprozesse,
 der Intern-Operationen
und der Operations-Objekte
berücksichtigt.

Literatur:

POPPER, K. R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hoffmann und Campe, Hamburg. 1973/1974
POPPER, K. R.: Über Wolken und Uhren. Zum Problem der Vernunft und der Freiheit des Menschen 1922. In: K. R.. POPPER: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hoffmann, 1973, S. 213 - 229

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