Prof. Harald Riedel:
Systemische Didaktik

Klassen- bzw. Begriffsbildung

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DIN 2342 definiert Begriff als eine
 

Denkeinheit, die aus einer Menge von Gegenständen unter Ermittlung der diesen Gegenständen gemeinsamen Eigenschaften mittels Abstraktion gebildet wird“.
 

Das ist eine Umschreibung dessen, was wir mit Klassen-Bildung bezeichnen. Die Formulierung “Abstraktion” bedeutet : Unterscheidung der Klassen-Merkmale von den Rest-Merkmalen. Ob die so gewonnene Klasse anschließend mit einem bestimmten Wort bezeichnet wird, ist demgemäß zweitrangig und hängt von der jeweils verwendeten Sprache ab.

Die Wörter

“HUND”

“DOG”

“CHIEN”

sind lediglich unterschiedliche Bezeichnungen für den
Begriff, also die Klasse oder die Kategorie

aller Hunde.

In der Umgangssprache wird   das Wort “Begriff” aber oft  in anderem Sinn verwendet:
Man ordnet einer Klasse von Objektn oder  Ereignissen ein bestimmtes Wort zu.”

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Die unterschiedliche Verwendung des Wortes “Begriff”

  • einerseits für die “innere”, nur schwer beobachtbare Klassenbildung
  • andererseits für die “äußere”, leicht beobachtbare Benennung der Klasse

 führt nicht nur zu Missverständnissen, sondern auch zu unterschiedlichen Ansichten über den Vorgang der Begriffsbildung, leider nicht nur  im Alltag, sondern auch in den Wissenschaften, wie diese psychologische Untersuchung zeigt.

 

 

 

Mancher  Erwachsener kann sich gar nicht vorstellen, wie anspruchsvoll und subjektiv die Bildung eines Begriffs sein kann.

Wenn Sie sich den Vorgang und die Subjektivität der Begriffsbidung vergegenwärtigen wollen, versuchen Sie doch einmal, die neun Wildpflanzen
 im Bild rechts
 zu klassifizieren
und die Klassen zu benennen.

KLasseBlüten

Sollten Sie Entscheidungsschwierigkeiten haben, achten Sie darauf, dass die Pflanzen nicht vollständig abgebildet sind.

Möglicherweise entscheiden Sie sich dann schon, die Pflanzen nach ihren Blüten zu ordnen.

Falls Sie nun nach der FARBE klassifizieren, gelangen Sie vielleicht zu folgender Ordnung:

  • 1 (grünlich),
  • 2 und 9 (weiß),
  • 6 und 8 (gelb),
  • 3 und 4 und 5 und 7 (lila).

Oder möchten Sie zusätzlich

  • 3 und 4 als rötlich
  • von 5 und 7 (lila)

unterscheiden?

Ursprünglich wurde das Bild jedoch zusammengestellt, um die Pflanzen nach der Form klassifizieren zu lassen.

Würden Sie auch folgendermaßen gruppieren?

3 und 5 und 9 (maulartig)
2 und 5 und 8   (sehr viele Blütenblätter)
1 und 6   (5 Blütenblätter)

Oder klassifizieren Sie völlig anders?

Angenommen, auch Sie hätten sich  dazu entschlossen, die maulartigen
2 (geflecktes Knabenkraut)
und 5 (Wiesensalbei)
und 9 (weißer Lerchensporn)
                                                                             als eine Klasse zu betrachten,

dann hätten Sie für sich den BEGRIFF der Maulartigen gebildet.

Ob Sie diesem Begriff bzw. dieser Klasse die Bezeichnung “Maulartige” oder “Zweiseitig-Symmetrische” oder “Lippenblütler” zuordnen, ist  gleichgültig, solange Sie sich nicht der botanischen Fachsprache verpflichtet fühlen.

“Begriff” bezeichnet die   semantische   Information über die Klassen-Merkmale,
das Wort “Lippenblütler” dagegen lediglich die   syntaktische   Information, also eine willkürliche Zuordnung von Zeichen.

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Beachtenswert für didaktische Überlegungen ist in diesem Zusammenhang, dass Ihnen die Klassenbildung gelang, ohne die Namen der einzelnen Pflanzen zu kennen. Woher sollten Sie auch die botanische Bezeichnung “grüne Nieswurz” der seltenen Pflanze (1) kennen?

Durch  sorgfältiges Auswerten  (vergleichende Betrachtung) der Blüten war es  Ihnen jedoch möglich, die Klassen-Merkmale ohne Kenntnis irgendwelcher Bezeichnungen herauszufinden.

Begriffs-bzw. Klassenbildung ist ohne sprachliche Codierung möglich !

Allerdings ist dies nur möglich, wenn Lernende  die Gelegenheit und Zeit erhalten, die Klassen-Merkmale

selbst herauszufinden!

Geben Sie Ihren Schülern daher die Möglichkeit,

  • wichtige Begriffe zunächst durch selbständige Klassenbildung zu erwerben,
  • erst dann ihnen passend erscheinende Bezeichnungen zuzuordnen.
  • Anschließend können dann fachsprachliche Bezeichnungen eingeführt werden,
    • die zunächst noch parallel zu den selbstgewählten Wörtern,
    • erst nach einer Gewöhnungsphase ausschließlich verwendet

werden sollten.

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Bilden Sie sich nun Ihre Meinung zu der folgenden bekannten und oft zitierten Untersuchung zur Begriffsbildung!

Drei Gruppen von kleinen Kindern sollten die Bedeutung des Wortes >Buch< lernen.

Gruppe 1
Es wird immer wieder ein bestimmtes Buch vorgelegt und dazu jedesmal gesagt: “Gib mir das Buch!”

Gruppe 2

Es wird zwar auch nur ein einziges Buch verwendet,
die Kinder hatten aber 20 verschiedenen Anweisungen zu  folgen
 (z. B. “Gib mir das Buch!«; “Nimm das Buch!” etc.).

Gruppe 3

Es werden  20 verschiedene Bücher dargeboten,
der Versuchsleiter spricht jedoch immer wieder die gleiche Aufforderung (etwa: “Gib mir das Buch!«).

In nachfolgenden Prüfversuchen mussten die Kinder aus zahlreichen Gegenständen,
unter denen sich auch das “gelernte” und vier andere Bücher befanden,
alle Bücher herausfinden.

Die Kinder wählten nur das Buch, das sie schon kannten.

Keine
Begriffsbildung vollzogen

1. Fehler:

Die Kinder wählten - sobald sie mehr als j verschiedene Hantierungen mit dem einen Buch durchgeführt rasch und sicher alle vorhandenen Bücher aus.

 

Je mehr die Kinder mit den Büchern hatten  tun müssen, desto geringere Schwierigkeiten bereitete die Auswahl.

Die Kinder wählten - sobald sie mehr als j  verschiedene Bücher gesehen hatten  rasch und sicher alle vorhandenen Bücher aus.

 

Je mehr Bücher den Kindern gezeigt worden waren, desto geringere Schwierigkeiten bereitete die Auswahl.

Die Autoren behaupten:

“Beide Gruppen verfügten also am Ende des Versuchs über einen - soweit sich das nach den Ergebnissen beurteilen läßt -adäquaten Begriff >Buch<“

Das aber ist eine kaum haltbare Behauptung. Die Kinder haben nicht die Bedeutung gelernt, die wir meinen, wenn wir “Buch” sagen.

Sie haben lediglich gelernt, das Wort “Buch” zuzuordnen

in Gruppe 2
einer Klasse von Gegenständen.

in Gruppe 3
einem Gegenstand, mit dem sie mehrmals hantiert hatten.

Die Kinder haben
ohne Möglichkeit, eigene Benennungsvorschläge zu machen,
eine   bestimmte syntaktische   Information (ein Wort)  gelernt,
nicht   aber die   semantische   Information (die Bedeutung, den Inhalt des Begriffs)!

2. Fehler:

Die Kinder aller Gruppen hatten überhaupt  keine Gelegenheit, durch die produzierende Intern-Operation   Auswerten  eine Klassenbildung vorzunehmen.
Um die Befehle auszuführen, genügte die Intern-Operation   Erkennen.
Das reichte auch im Falle der Gruppe 2, in der die Kinder wenigstens verschiedene externe  Operationen auf  Befehl ausführen mussten..

Oft genug werden beide Fehler  aus Unkenntnis im Unterricht aller Schulen gemacht,
angefangen in der Grundschule bis hin zur Hochschule !

Falls Ihnen diese Aussage zu drastisch erscheint, bedenken Sie bitte, dass die Gewohnheit, neue “Begriffe” definitorisch auf schon bekannten aufzubauen, zwar zeitlich-ökonomische Vorteile bringt, aber keine Begriffsbildung durch den Lernenden zulässt, sondern ihm lediglich eine terminologische Konstruktion aufzwingt. Die Seite “Didaktische Objektbereiche” bietet hierfür ein Beispiel.

Für die Grundschule verbietet sich das aus lernpsychologischen Gründen. Aber auch in der Hochschule sollten Lehrende überlegen, ob  sie nicht eine echte Begriffsbildung durch Klassifizierung durch den Studierenden vorziehen sollten, wenn der Anfangs-Zustand der Studierenden noch gering ist und es um den Erwerb von grundlegenden Begriffen geht.

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